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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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Seil nimmt, den Mast erklimmt, die Schlinge knüpft, sich innerlich festigt, seinen Schöpfer anruft, sich ins Leere fallen läßt. Fühlte er, als er durch die Finsterniß stürzte, innere Ruhe oder Furcht? Das Knacken seines Genicks.
    Wenn ich nur davon gewußt hätte! Ich hätte dem Kinde geholfen, heimlich abzuheuern, sein Schicksal abgewendet, wie es die Channings mit meinem thaten, oder ihm zu der Erkenntniß verholfen, daß keine Tyranney ewig währt.
    Die Prophetess hat alle verfügbaren Segel gesetzt u. «segelt wie eine Zauberin» (nicht um meinetwillen, sondern weil die Ladung verdirbt). Wir legen täglich mehr als drei Breitengrade zurück. Ich bin jetzt so krank, daß ich an meinen Sarg gefesselt bin. Boerhaave glaubt wohl, ich würde mich vor ihm verstecken. Er täuscht sich, denn der Wunsch, gerechte Vergeltung möge über sein Haupt kommen, ist eines der wenigen noch nicht erloschenen Feuer in meiner furchtbaren Erstarrung. Henry bestürmt mich, mein Tagebuch zu führen, um meinen Geist zu beschäftigen, aber meine Feder kratzt unbeholfen u. schwer über das Papier. In drei Tagen laufen wir in Honolulu ein. Mein getreuer Arzt verspricht, mich an Land zu begleiten, keine Kosten zu scheuen, um wirksame schmerzstillende Mittel zu beschaffen u. an meinem Bette zu wachen, bis ich vollends genesen bin, selbst wenn die Prophetess ohne uns nach Californien auslaufen muß. Gott schütze diesen besten aller Menschen. Für heute kann ich nichts mehr schreiben.
     
    Sonntag, 29. December ~
     
    Ich bin über alle Maßen elend.
     
    Montag, 30. December ~
     
    Der Wurm ist wiederaufgelebt. Seine Giftbeutel sind zerplatzt. Ich werde von Schmerzen, wundgelegenen Stellen u. schrecklichem Durste gepeinigt. Bis nach Oahu sind es zwei bis drei Tage nordwärts. Der Tod ist nur noch Stunden entfernt. Ich kann nicht trinken u. erinnere mich nicht, wann ich zum letzten Male gegessen habe. Ich nahm Henry das Versprechen ab, dieses Tagebuch den Bedfords in Honolulu zu überbringen. Von dort aus wird es meine Hinterbliebenen erreichen. Er gelobt mir, ich würde es auf meinen eigenen zwei Beinen übergeben, aber all meine Hoffnungen sind zunichte. Henry hat auf heldenhafte Weise sein möglichstes gethan, doch der Parasit ist zu bösartig, u. ich muß meine Seele ihrem Schöpfer anvertrauen.
    Jackson, wenn Du dereinst ein erwachsener Mann bist, dulde nicht, daß Dein Beruf Dich von Deinen Lieben trennt. Während meiner monatelangen Abwesenheit von zu Hause dachte ich an Dich u. Deine Mutter mit immerwährender Zärtlichkeit, u. sollte es geschehen […]  2
     
    Sonntag, 12. Januar ~
     
    Die Versuchung, mit dem perfiden Ende der Geschichte zu beginnen, ist groß, aber der Verfasser dieses Tagebuchs wird sich streng an den zeitlichen Ablauf halten. Am Neujahrstage waren meine Kopfschmerzen so quälend, daß ich stündlich Gooses Medicin einnahm. Das unerträgliche Schlingern des Schiffes zwang mich in mein Bett, wo ich mich, von einem eiskalten, brennendheißen Fieber geschüttelt, in einen Sack erbrach, obwohl mein Magen leer war. Mein Leiden ließ sich vor der Mannschaft nicht länger verbergen, u. mein Sarg wurde unter Quarantaine gestellt. Goose hatte Cpt. Molyneux mitgetheilt, daß mein Parasit ansteckend sei, womit er sich als Vorbild an selbstlosem Muth auswies. (Ob Cpt. Molyneux u. Boerhaave an den nachfolgenden Vergehen betheiligt waren, kann weder bewiesen noch widerlegt werden. Boerhaave war mir übel gesinnt, doch ich muß zugeben, daß seine Mitthäterschaft an dem weiter unten geschilderten Verbrechen zuhöchst unwahrscheinlich ist.)
    Ich erinnere mich, als ich aus den Untiefen meines Fiebers auftauchte. Goose stand dicht über mich gebeugt. Seine Stimme senkte sich zu einem liebevollen Flüstern. «Mein teurer Ewing, Ihr Wurm befindet sich in seinem Todeskampfe u. stößt den letzten Tropfen seines Giftes aus! Sie müssen dieses Abführmittel trinken, um seine verkalkten Überreste auszuscheiden. Es wird Sie in einen Schlaf versetzen, doch wenn Sie wieder erwachen, wird der Wurm verschwunden sein, der Sie so schrecklich peinigt! Das Ende Ihrer Leiden ist nah. Öffnen Sie den Mund, ein letztes Mal noch, sachte, liebster aller Freunde … das Mittel ist von einem bitteren, scheußlichen Geschmack, das ist die Myrrhe, aber nun hinunter damit, für Tilda u. für Jackson …»
    Ein Glas berührte meine Lippen, u. Gooses Hand stützte meinen Kopf. Ich versuchte, ihm zu danken. Der Trank schmeckte nach Bilgewasser
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