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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition)
Autoren: David Mitchell
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Adam. Sie waren nicht einfältiger als jeder andere meiner Gönner.» Der Deckel der Seekiste klappte auf. Goose zählte den Inhalt meiner Geldbörse durch, grinste höhnisch, fand Herrn v. Weiß’ Smaragd u. prüfte ihn durch eine Lupe. Er war nicht im mindesten beeindruckt. Dann band der Unhold die Documentenbündel auf, die zum Busby-Nachlaß gehörten, u. erbrach auf der Suche nach Banknothen die versiegelten Umschläge. Ich hörte, wie er meine bescheidenen Rücklagen zählte. Als nächstes klopfte er meine Seekiste nach Geheimfächern ab, aber er fand keine, weil es keine giebt. Zum Schluß schnitt er die Knöpfe von meiner Weste.
    Goose sprach in meinem Delirium zu mir, wie man ein unbrauchbares Werkzeug anreden würde. «Offen gesagt, ich bin enttäuscht. Ich bin schon irischen Canalarbeitern mit mehr Geld in den Taschen begegnet. Ihre Börse deckt kaum meine Ausgaben für Arsenik u. Opiate. Wenn Mrs.   Horrox mir für meine werthen Dienste nicht ihren Hort schwarzer Perlen überlassen hätte, nun, dann säße der arme Goose jetzt mächtig in der Tinte! Sei’s drum, es ist Zeit, voneinander Abschied zu nehmen. Sie werden binnen einer Stunde tot sein, u. für mich heißt es auf zu neuer Wanderschaft!»
     
    Meine nächste bewußte Erinnerung ist die des Untergehens in Salzwasser, so hell, daß es schmerzte. Hatte Boerhaave meinen leblosen Körper gefunden u. über Bord geworfen, um sich so meines Schweigens zu versichern u. einem langwierigen Verfahren vor dem amerikanischen Consul zu entrinnen? Mein Geist war noch wach u. also in der Lage, sich zum Verlaufe meines Schicksals zu äußern. Ins Ertrinken einwilligen oder zu schwimmen versuchen? Ertrinken war bei weitem die einfachste Lösung, also suchte ich nach einem letzten Gedanken u. landete bei Tilda, als sie damals, vor so sehr vielen Monaten, am Silvaplana Wharf stand u. der Belle Hoxie nachwinkte, während Jackson schrie: «Papa, Papa, bring mir eine Känguruhpfote mit!»
    Der Gedanke, sie niemals wiederzusehen, war so peinigend, daß ich das Schwimmen wählte, doch ich befand mich nicht im Meere, sondern lag, vor Fieber, Krämpfen u. reißenden Schmerzen erbärmlich zitternd u. mich heftig erbrechend, zusammengekrümmt an Deck. Autua hielt mich (er hatte einen ganzen Eimer Meerwasser in mich hineingeschüttet, um das Gift auszuspülen), während ich unablässig würgte. Boerhaave schob sich durch die Ansammlung von gaffenden Schauerleuten u. Matrosen u. knurrte: «Ich hab’s dir schon einmal gesagt, Nigger, der Yankee geht dich nichts an! Wenn deutliche Befehle dich nicht überzeugen …» Obgleich vom Sonnenlicht geblendet, sah ich, wie der Erste Officier Autua einen viehischen Tritt in die Rippen versetzte u. zu einem weiteren ausholte. Autua ließ meinen Kopf behutsam auf das Deck sinken, packte Boerhaaves Unterschenkel, richtete sich, das Bein seines Angreifers mit sich nehmend, zu seiner vollen Größe auf u. warf den wutentbrannten Holländer so aus dem Gleichgewicht. Boerhaave fiel unter löwenartigem Gebrüll auf den Hinterkopf. Nun ergriff Autua auch das zweite Bein u. schleuderte unseren Ersten Officier wie einen Sack Kohlköpfe über das Schanzkleid.
    Ob die Besatzung zu ängstlich, erstaunt oder entzückt war, um Widerstand zu leisten, wird mir für immer verborgen bleiben, Autua jedenfalls trug mich unbehelligt über eine Laufplanke hinunter zum Kai. Mein Verstand sagte mir, daß weder Boerhaave im Himmel noch Autua in der Hölle sein konnten; also mußten wir in Honolulu sein. Vom Hafen gelangten wir auf eine von unzähligen Sprachen, Hautfarben, Glaubensbekenntnissen u. Gerüchen wimmelnde Geschäftsstraße. Mein Blick begegnete dem eines Chinesen, der sich unter einem geschnitzten Drachen ausruhte. Zwei Frauen, deren Schminke u. Tournüren ihr uraltes Gewerbe anzeigten, starrten mich an u. bekreuzigten sich. Ich wollte ihnen erklären, daß ich noch nicht gänzlich tot sei, doch sie waren bereits fort. Autuas Herz schlug an meiner Seite u. ermuthigte das meine. Dreimal frug er Fremde: «Wo Arzt, Freund?» Dreimal nahm man keine Notiz von ihm (einer antwortete: «Keine Medicin für stinkende Schwarze!»), ehe ein alter Fischhändler ihm grunzend den Weg zu einem Siechenhause wies. Nachdem ich für einige Zeit die Besinnung verloren hatte, vernahm ich das Wort «Hospital». Kaum athmete ich dort die stinkende, von Kot u. Verwesung geschwängerte Luft, erbrach ich mich aufs neue, obgleich mein Magen leer war wie ein abgelegter
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