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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder
Autoren: Douglas Starr
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die Standardkleidung der Anstalt – ein graues Baumwollhemd und eine graue Hose –, und sein entstelltes Gesicht war nicht zu übersehen.
    Einige Wochen später entdeckten ihn einige Soldaten in Besançon, woraufhin ihn Ortspolizisten festnahmen. Wenige Tage später setzte man ihn in einen Zug, um ihn in die Anstalt zurückzubringen. Seine Wärter wurden angewiesen, ihm Handschellen anzulegen und ihn ständig im Auge zu behalten. Während der Fahrt fragte Vacher, ob er beim nächsten Halt die Toilette aufsuchen dürfe. »Sie müssen warten«, sagten sie, denn sie wollten ihn nicht einmal dafür aussteigen lassen, obwohl seine Hände gefesselt waren. Schließlich schlug er vor, unmittelbar vor den Wärtern zur Tür hinaus zu urinieren. Da der Zug mit Höchstgeschwindigkeit dahinraste, schien es unwahrscheinlich, dass Vacher einen Sprung wagen, geschweige denn überleben würde. Er schlurfte also zur Tür, öffnete seine Hose und sprang hinaus, ehe die Wärter reagieren konnten. Dann knallte er auf den Bahndamm, rollte sich ab und lief wie ein Hase davon, während der Zug weiterfuhr.
    Zwei Tage später stöberten ihn von einigen Dorfkindern alarmierte Polizisten in einem Bauernhaus beim Essen auf. Sie brachten ihn in Ketten nach Dole zurück. Sein Zustand verschlimmerte sich. Er hatte immer häufiger »melancholische Zustände« und versuchte, sich umzubringen, indem er den Kopf an eine Wand schlug. »Wir müssen häufig drastische Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass er sich selbst verletzt«, schrieben die Ärzte in einem »Situationsbericht« vom 26. Oktober 1893.
    Inzwischen war Dr. Guillemin eingetroffen, um eine offizielle Analyse von Vachers Geisteszustand zu erstellen. Er sprach mit ihm, untersuchte ihn körperlich, unterhielt sich mit seinen Betreuern und las die Akten. Dann diagnostizierte er Vacher als »verwirrten Mann mit Verfolgungswahn ersten Grades«. In diesem Zustand habe sich Vacher fast sein Leben lang befunden. Die Symptome seien nicht immer offenkundig, träten aber gelegentlich mit voller Schärfe auf, und als Louise ihn abgewiesen habe, seien sie schlimmer geworden denn je und hätten Selbstmordgedanken ausgelöst. In der Anstalt leide Vacher weiter an schwerem Verfolgungswahn und akustischen Halluzinationen. Er glaube, »die ganze Welt habe sich gegen ihn verschworen«, schrieb Guillemin. Seit seiner Ankunft in Dole glaube Vacher, die Ärzte vernachlässigten und ignorierten ihn, wollten ihn nicht versorgen und sähen ihn gerne tot. »Wir haben unser Bestes getan, aber er wirft uns vor, ihn töten zu wollen. Es gibt keine Anzeichen für eine Besserung.«
    Abschließend schrieb Guillemin: »1. Vacher ist geistesgestört und leidet an Verfolgungswahn. 2. Er ist für sein Handeln nicht verantwortlich.«
    Das zuständige Gericht erklärte ihn daraufhin wegen Unzurechnungsfähigkeit für nicht schuldig. Dadurch wurde Vacher vom Kriminellen zum geisteskranken Mündel des Staates, genauer gesagt des Departements Isère in Ostfrankreich. Man wollte ihn ins dortige staatliche Irrenhaus außerhalb von Grenoble einweisen, wo er bleiben sollte, bis seine Ärzte ihn für geheilt erklärten.
    Zwei Wärter begleiteten ihn auf seiner Zugfahrt zur neuen Anstalt Saint-Robert. Sie trugen einen Bericht bei sich, in dem Guillemin den Patienten als »derzeit wirklich ruhig« beschrieb. »Er will nur in seine Region zurückkehren und bald wieder bei seiner Familie sein.« Guillemin war zuversichtlich, dass Vacher sich während des Transports anständig benehmen werde. »Da er jedoch bereits Selbstmord- und Fluchtversuche unternommen hat, empfehle ich strenge Bewachung. Zwei zuverlässige Beamte sollten genügen.« Unerklärlich ist, dass er den Mordversuch, die »Stimmen« und Vachers gefährlichen Verfolgungswahn in diesem Bericht nicht erwähnte. Das Personal im Saint-Robert bereitete sich daher auf den Empfang eines depressiven, selbstmordgefährdeten Menschen vor, nicht aber auf einen Mann, der für andere gefährlich war. Später erinnerte sich Vacher daran, dass er nach der Abfahrt in Dole nur noch den Wunsch hatte, »überall Blut zu sehen«.
    Vacher hatte versprochen, sich während der Überführung ruhig zu verhalten. Die Ärzte hatten an seine Vernunft und Würde appelliert und ihm erlaubt, anstelle der grauen Anstaltskleidung seine Regimentsuniform zu tragen. Doch die Uniform schürte nur seine Wut, und er beschloss, zu fliehen und die Welt über die Missstände in Dole zu informieren. Schon auf
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