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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder
Autoren: Douglas Starr
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kam sein paranoider und gewalttätiger Charakter zum Vorschein. Er beschuldigte die Ärzte – anfangs ruhig, später immer heftiger –, sich gegen ihn verschworen zu haben, und verlangte jeden Tag, ein Chirurg solle ihm die Kugel aus dem Ohr holen. Kurz vor dem geplanten Eingriff warf er dem medizinischen Personal vor, ihn umbringen zu wollen, und rannte aus dem Operationssaal.
    Am 20. Juli machte er nach den Aufzeichnungen der Anstalt eine »nervöse Krise« durch. Er schrie die Ärzte an und prügelte sich mit seinen Zimmergenossen. Manchmal saß er vor- und zurückschaukelnd auf der Bettkante. »Hin und wieder hebt er den Kopf und fokussiert die Augen, als lausche er unsichtbaren Stimmen«, schrieb der Assistenzarzt Dr. Léon Guillemin. »In solchen Momenten hat er den Gesichtsausdruck eines Verrückten.«
    Innerlich kochte Vacher. Er hasste die Anstalt und alle, die sich in ihr aufhielten. Seiner Meinung nach waren die Ärzte herzlos und die Patienten Schweine. Später schrieb er in einem langen, verbitterten Brief an die Behörden – er sollte sich bald als fleißiger Briefschreiber erweisen –, die Irrenanstalt sei »schmutzig und widerlich« und man zwinge ihn, auf einer schmuddeligen Matratze voller Flöhe zu schlafen. Das Essen sei kaum genießbar, und die Wärter würden es oft stehlen. Nicht beaufsichtigte Patienten misshandelten einander, und es mache ihnen besonderen Spaß, die Blinden zu quälen. »Sie schubsten sie und spuckten ihnen ins Gesicht. Manche stießen sie sogar nackt in den Schnee hinaus.« Bisweilen dachte er offenbar sogar an Selbstmord. »Und ich war nicht der Einzige … Manche konnten diese Behandlung nicht ertragen und nahmen sich das Leben.«
    Nach ihrer eigenen Einschätzung waren die Ärzte in Dole mitfühlend und fürsorglich. Gedruckte Texte aus der Anstalt bezeichneten ihre Therapie als »behutsam, erträglich, human und eher modern«. Anders als früher wurden die Patienten nicht an die Wand gekettet oder wegen unwissentlich begangener Verfehlungen geschlagen. »Alle Erzwingungsmethoden, die Kranke quälten, wurden aufgegeben … Patienten werden überaus menschlich behandelt.«
    Als Vacher aufgenommen wurde, bereitete der Direktor der Anstalt gerade den Umzug der Insassen in einen neuen Gebäudekomplex vor, der aus mehreren Pavillons bestand und in einer ländlichen Umgebung etwas außerhalb der Stadt erbaut worden war – eine beachtliche Verbesserung im Vergleich zur bisherigen festungsähnlichen Anstalt. Damals wurden solche Einrichtungen überall in Europa gebaut.
    Dennoch waren die Zustände in Dole nicht so, wie sie sein sollten. Ende des 19. Jahrhunderts berichtete ein Besucher, dass viele Patienten immer noch in dunklen, vergitterten Zellen lebten und unzureichend versorgt würden. Wie viele andere Irrenanstalten hatte auch die in Dole viel zu viele Insassen. Die Zahl der geistig Behinderten war in Frankreich (wie in ganz Europa und in Amerika) sprunghaft gestiegen. Schuld daran waren der Alkoholismus und die Syphilis, zudem wurde die Diagnose »geisteskrank« immer häufiger gestellt. Mit diesem Begriff wurden damals Probleme aller Art zusammengefasst, etwa Demenz, Obdachlosigkeit und kriminelles Verhalten. Daher luden Gefängnisse, Zuchthäuser und Armenhäuser die Menschen, mit denen sie nichts anfangen konnten, in den Irrenanstalten ab. Viele kamen auch direkt von der Straße. Als Vacher aufgenommen wurde, beherbergte die staatliche Anstalt mehr als doppelt so viele Patienten wie ursprünglich geplant. Sie war für 500 Insassen gebaut worden, war aber mit über 900 vollgestopft, von denen mindestens 15 Prozent Kriminelle waren. (Angesichts solch unerträglicher Zustände konnte selbst ein sehr engagierter Arzt herzlos werden. Als der Direktor der Irrenanstalt Villejuif in Paris gefragt wurde, welche Therapie seiner Meinung nach am wirksamsten sei, antwortete er: »Wir warten darauf, dass sie sterben.«)
    Die Ärzte hatten Vacher in einem Hochsicherheitstrakt untergebracht, aber die Aufsicht war wie in vielen anderen Anstalten nicht streng genug. In der Nacht des 25. August 1893 schlich sich Vacher daher aus seinem Zimmer, fand einen langen Balken, lehnte diesen an die Mauer und floh in die Freiheit. Er wollte nach Baume-les-Dames fahren, um Louise zu suchen. Eine Fahndungsmeldung wurde sofort telegrafisch verschickt, und die Polizei in Louises ’ Dorf erhielt eine besondere Warnung. Es konnte nicht schwer sein, den Flüchtigen zu identifizieren, denn er trug
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