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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman
Autoren: Andrej Kurkow
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bereit für den Festtag.
    Banow stieg wieder hinunter und schloss die Eingangstür ab.
    Dann kletterte er auf das Dach.
    Ein herbstlicher Abend war über der Hauptstadt hereingebrochen. Es gab Wolken, die gleich Regen bringen würden. Bald würde man nicht mehr auf dem Dach sitzen können, weil es zu gefährlich war. Erst wieder im Winter, wenn der Schnee nicht mehr ganz frisch war, sondern schon ein wenig hart. Aber das konnte noch eineinhalb oder zwei Monate dauern, vielleicht sogar drei.
    Zwischen der Schule und dem Erlöserturm schien Licht aus den Fenstern des vor kurzem fertiggestellten Hochhauses. Der Lärm der Stadt klang ab. Nur wenige Autos fuhren durch die nahen Querstraßen der Sretenka-Straße und tasteten dabei mit ihren Scheinwerfern den Weg ab.
    Banow verspürte eine innere Ruhe und dachte an den Kremlträumer. Was Karpowitsch ihm erzählt hatte, klang wie ein Märchen, aber aus irgendeinem Grund glaubte Banow allmählich, dass das, was er gehört hatte, der Wahrheit entsprach. Vielleicht deshalb, weil er Karpowitsch als altem Kampfgenossen vom ersten Moment an vertraut hatte, obwohl sie in jenen Kriegsjahren keine engen Freunde gewesen waren. Aber nichtsdestotrotz: Wenn Karpowitsch damals bei Jekaterinoslaw nicht gewesen wäre und die beiden Kisten mit Munitionsgurten für die „Maxim“ nicht gebrachte hätte, wer weiß, wie der Kampf ausgegangen wäre. Und was für ein prächtiger Glockenturm das gewesen war! Bestimmt höher als dieses Dach, mit Sicherheit sogar!
    Während Banow sich an den Glockenturm erinnerte, schnalzte er mit der Zunge. Und er sah mit einem gewissen Hochmut nach unten – zwischen ihm und dem Asphalt lagen vielleicht fünfzehn Meter. War das etwa hoch?!
    * * *
    Diese Nacht verbrachte der Schuldirektor in seinem Büro. Er schlief gleich im Sitzen am Tisch ein, wobei er unter seinen Kopf das weiche Lederkissen vom Sitz des Besucherstuhls gelegt hatte.
    Er erwachte früh. Die Uhr an der Wand zeigte halb sechs.
    Er trank Tee.
    Um halb sieben kam ein Anruf aus dem Narkompros. Man wollte wissen, ob alles für den Festtag vorbereitet sei, woraufhin er antwortete: „Alles bereit.“
    Dann fuhr ein Ambulanzwagen vor – die Spendebrigade.
    Banow begrüßte sie, half beim Ausladen und dann gingen alle gemeinsam in das extra für die Brigade bereitgestellte Klassenzimmer. Dort wurde ausgepackt und allerlei Nadeln und Eisenkästchen mit glänzenden medizinischen Instrumenten aus Chrom kamen zum Vorschein, deren Anblick bei Banow ein gemischtes Gefühl aus Respekt und Furcht hervorrief. In einer Ecke wurden sechs große Behälter in speziellen Holzgerüsten aufgestellt.
    „Na dann …“ Banow breitete die Arme aus. „Es ist also alles bereit.“
    „Danke“, nickte der Leiter der Brigade, ein hagerer und ziemlich junger Mann mit einer spitzen Nase.
    Die vier jungen Frauen, die mit ihm gekommen waren, zogen bereits weiße Kittel über ihre Alltagskleidung.
    Über der Tür des Klassenzimmers hing das Spruchband „Unser Blut für das Vaterland!“. Als Banow es gelesen hatte, fiel sein Blick auf einen jungen Pionier, der bei der Tür stand.
    „Was machst denn du so früh schon hier?“, fragte ihn Banow.
    „Ich möchte der Erste sein!“, sagte der Junge ent-schlossen.
    „Ein guter Junge!“ Banow lächelte und tätschelte den Kopf des Pioniers.
    Dann ging er zurück in sein Zimmer.
    Die Schule füllte sich mit Leben. Vor seiner Tür schwirrten bereits Kinderstimmen. Das Fußgetrappel auf dem Parkett des Korridors hallte als dumpfes Echo nach.
    Vizedirektor Kuschnerenko trat herein, um zu berichten, dass kein Schüler fehle.
    „Gut“, sagte Banow. „Den feierlichen Appell werden wir nach der Blutspende abhalten, ich unterrichte die Lehrer davon!“
    Vor der Tür zum Klassenzimmer, in dem die Spendebrigade untergebracht war, stellte sich die Klasse 10A auf. Es war beschlossen worden, mit den älteren Klassen zu beginnen, denn die waren erfahrungsgemäß am ungeduldigsten.
    Banow holte die Anordnung des Narkompros aus dem Tresor, die den Ablauf des landesweiten Tags der Spende betraf, um die Normwerte für die Blutabnahme an Schülern durchzusehen.
    „Klassen 8 – 10 – 350 Milliliter
    Klassen 5–7 – 250 Milliliter
    Klassen 3–4 – 200 Milliliter
    Klassen 1 –2 – 125 Milliliter“
    Nach der Durchsicht schnaubte Banow verächtlich. Die Schüler der zehnten Klasse betrachtete er immerhin als erwachsene Menschen, und Erwachsene mussten achthundert spenden.
    Die Spendebrigade
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