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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman
Autoren: Andrej Kurkow
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Kalinin-Porträt ans Bücherregal gelehnt hatte, verließ auch er das Zimmer.
    Nunmehr allein stellte Banow erst einmal den Teekessel auf den Petroleumkocher. Dann brach er das Siegel der Kiste. Er fand einen Karton mit der Aufschrift: „Abzeichen ‚Roter Spender‘ – 1000 Stück“ darin, daneben lagen als verschnürtes Päckchen mit derselben Aufschrift die Vergaberichtlinien sowie noch ein ähnliches Päckchen, das die Noten und den Text des neuen Liedes von Orlow-Nadeschin „Der jugendliche Spender“ enthielt.
    Banows Gedanken kehrten zum Kalinin-Bild zurück. Er wollte dieses Problem so schnell wie möglich lösen, um dann in Ruhe eine Tasse Tee zu genießen. Und wenn ich ihn einfach neben Dserschinskij hänge?, überlegte Banow, und dieser Gedanke schien ihm ganz vernünftig. In der Tischlade fand er eine Schachtel mit Nägeln und einen kleinen Hammer. Dann stellte er sich auf den Stuhl und schlug einen Nagel in die Wand – genau auf der Höhe von Dserschinskijs Nase, nur etwas weiter rechts, einen halben Meter neben dem Porträt dieses Ritters der Revolution.
    Nachdem Kalinin an der Wand hing, ging Banow zum Bücherregal und betrachtete von dort aus die beiden Porträts.
    Ja …, dachte er und seufzte in Gedanken. Sie sehen ja aus wie Brüder! Sie sind einander doch sehr ähnlich!
    Dann bemerkte er, dass das Dserschinskij-Porträt ein wenig höher hing als das Kalinin-Porträt, aber er unternahm nichts dagegen.
    Die Zeit verging langsam. Die Herbstsonne, die manchmal hinter den Wolken hervorschien, malte das Quadrat des Fensters auf den Boden des Zimmers.
    Schon schmückten im ersten Stock Spruchbänder den blitzblank geputzten Korridor. Vor der Tür der Direktion war es still geworden. Bevor Kuschnerenko mit dem zweiten Stock begann, schaute er bei Banow vorbei, um ihm mitzuteilen, dass die Nägel reichen würden.
    Alles war gut.
    Dem Direktor blieb nichts zu tun, und so las er die Vergaberichtlinien „Roter Spender“ und dann auch noch das Lied des Komponisten Orlow-Nadeschin.
    Eine Richtlinie wie jede andere, dasselbe gilt auch für das Lied. Nicht besonders neu, dachte Banow.
    Wieder klopfte es an der Tür.
    Herein trat ein Mann in fortgeschrittenem Alter mit graumeliertem Haar. Er war sorgfältig und auffällig gekleidet und blieb in der Mitte des Zimmers stehen.
    Banow blickte ihn fragend an und wartete darauf, dass er etwas sagen würde, aber der Mann sah Banow einfach nur an. Mit einem Mal kamen dem Schuldirektor die Augen des Mannes bekannt vor. Es waren müde, zusammengekniffene Augen.
    „Sind Sie Genosse Banow?“, beendete der Mann das Schweigen.
    „Ja“, antwortete der Direktor.
    „Mein Name ist Karpowitsch“, sagte der Mann. „Wasilij Karpowitsch …“
    Banow drehte den Kopf ein klein wenig zum Fenster und sah Karpowitsch aus den Augenwinkeln an, um ihn genauer betrachten zu können.
    Karpowitsch, Karpowitsch …, wiederholte der Schuldirektor in Gedanken.
    „Im neunzehner Jahr bei Jekaterinoslaw … Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen Munition gebracht … zwei Kisten … auf den Glockenturm. Außerdem hat sich die Verriegelung Ihrer ‚Maxim‘ verklemmt.“
    Diese Hinweise brachten Banow den Vorfall wieder deutlich in Erinnerung und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln.
    „Setzen Sie sich!“, sagte er zu Karpowitsch. „Wollen wir Tee trinken?“
    Karpowitsch lächelte erleichtert und nickte.
    Der Schuldirektor holte zwei Tassen. Der Teekessel stand bereits auf dem Petroleumkocher am Fensterbrett, der nur noch etwas gerüttelt und angezündet werden musste.
    „Vor kurzem las ich in der Zeitung von dieser Schule und plötzlich sehe ich – Schuldirektor W. Banow …“, erzählte Karpowitsch. „Also habe ich beschlossen, dich ausfindig zu machen und herauszufinden, ob das du bist. Entschuldige, dass ich gleich zum ‚Du‘ übergegangen bin, vielleicht …“
    „Aber nein, hör auf!“, unterbrach ihn Banow. „Wir sind doch keine Wichtigtuer! Wo bist du eigentlich jetzt?“
    „Hier, in Moskau. Irgendwie hat es bei mir beruflich nicht so geklappt nach dem Krieg … Ich arbeite als Hausmeister im Kreml …“
    „Im Kreml?!“, wiederholte Banow. „Und du sagst, dass es nicht geklappt hat!“
    „Naja …“, zuckte Karpowitsch die Achseln. „Hausmeister klingt nicht so besonders. Obwohl natürlich nicht jeder Dahergelaufene im Kreml als Hausmeister eingestellt wird … Ich kenne dort schließlich arbeitsbedingt verschiedenste Geheimnisse. Ich habe sogar im NKWD eine
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