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Der Wächter

Der Wächter

Titel: Der Wächter
Autoren: Dean R. Koontz
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zählen konnte, weil sie ihn da daran erinnerte, wie sehr sie ihn liebte. Wenn er ihr lauschte, kamen ihm die fünf Jahre wie ein einziger Tag vor, und selbst der Krebs und das Grab hatten keine Macht mehr.
    Er öffnete gerade eine Dose Plätzchen, die Mrs. McBee ihm hingestellt hatte, da läutete sein Telefon.
    Fric stellte den Wecker am Weihnachtsmorgen immer früh, nicht weil er gespannt darauf war, was für ihn unter dem Weihnachtsbaum lag, sondern weil er die dämlichen Geschenke möglichst schnell auspacken wollte, damit das erledigt war.
    Natürlich wusste er, was das noble Geschenkpapier verhüllte: alles das auf der Liste, die er Mrs. McBee am 5. Dezember hatte überreichen müssen. Man hatte ihm noch nie etwas verweigert, worum er gebeten hatte, und jedes Mal, wenn er weniger aufgeschrieben hatte als sonst, war er aufgefordert worden, die Liste zu ergänzen, bis sie mindestens so lang wie die vom Vorjahr war. Unter dem Baum im Salon lag immer eine Riesenmenge tolles Zeug, keinerlei Überraschung.
    Als er an diesem Weihnachtsmorgen aufwachte, sah er jedoch etwas, was er noch nie gesehen hatte. Während er geschlafen hatte, war jemand in sein Zimmer geschlichen und hatte auf seinem Nachttisch neben dem Wecker ein Geschenk hinterlassen.
    Eine kleine, weiß verpackte Schachtel mit einer weißen Schleife.
    Die Karte war größer als die Schachtel. Sie trug zwar keine Unterschrift, aber der Absender hatte folgende Sätze geschrieben: Das hier ist ein Zauberding . Blinzelt es nicht , wirst du große Abenteuer erleben . Vergießt es keine Träne , wirst du ein langes , glückliches Leben haben . Schläft es nie , wirst du zu dem Mann werden , der du sein willst .
    Das war ein so erstaunlicher Text, so geheimnisvoll und so reich an Möglichkeiten, dass Fric ihn gleich mehrmals las und über die Bedeutung rätselte.
    Er zögerte, die weiße Schachtel zu öffnen, weil er nicht glaubte, dass sie irgendetwas enthielt, was dem Versprechen auf der Karte gleichkam.
    Als er das glänzende Papier endlich entfernte, den Deckel abhob und das Seidenpapier zur Seite faltete, da stellte er jedoch fest, dass – Oh ! – der Inhalt durchaus mit der Karte mithalten konnte.
    An einer neuen Goldkette hing ein gläserner Anhänger, eine Kugel, und in der Kugel schwebte ein Auge! So etwas hatte er noch nie im Leben gesehen, und er wusste, dass er auch nie wieder etwas Ähnliches sehen würde. Möglicherweise handelte es sich um ein Souvenir vom untergegangenen Kontinent Atlantis, das Schmuckstück eines Zauberers oder das Amulett eines Ritters der Tafelrunde, der unter dem Schutz Merlins für die Gerechtigkeit gefochten hatte.
    Blinzelt es nicht , wirst du große Abenteuer erleben .
    Kein Blinzeln, nie, weil dieses Auge nämlich kein Lid besaß.
    Vergießt es keine Träne , wirst du ein langes , glückliches Leben haben .
    Keine Träne, von nun an und auf alle Zeit, weil dieses Auge nämlich nicht weinen konnte.
    Schläft es nie , wirst du zu dem Mann werden , der du sein willst .
    Kein Schlaf, und zwar nicht das kürzeste Nickerchen, weil dieses Auge nämlich auf magische Weise immer weit offen war und keine Ruhe brauchte.
    Fric betrachtete den Anhänger im Sonnenlicht, im Lampenschein, im Kegel einer Taschenlampe in seinem dunklen Kleiderschrank.
    Er studierte die Kugel mit einer starken Lupe und dann indirekt mit einer Reihe kleiner, kunstvoll aufgestellter Spiegel.
    Er steckte sie in die Jackentasche seines Schlafanzugs und wusste, dass das Auge nicht geblendet wurde.
    Er hielt es in der geschlossenen rechten Hand, spürte den weisen Blick auf den Kuppen seiner gewölbten Finger und wusste: Wenn er ein reines Herz behielt und sich immer bemühte, das Gute zu verteidigen, so wie alle Ritter das immer taten, dann würde ihm dieses Auge eines Tages die Zukunft zeigen, wenn er sie zu sehen wünschte, und ihm den Weg nach Camelot weisen.
    Nachdem Fric tausend Dinge überlegt hatte, die er hätte sagen können, und neunhundertneunundneunzig davon verworfen hatte, legte er den Anhänger in die Schachtel zurück, erwiderte den einäugigen Piratenblick und machte dann seinen Anruf.
    Grinsend hörte er die ersten neun Töne der Titelmelodie von Polizeibericht .
    Als abgehoben wurde, sagte Fric: »Frohe Weihnachten, Mr. Truman!«
    »Frohe Weihnachten, Fric!«
    Nach diesen Worten legten die beiden auf, als hätten sie es abgesprochen, weil es in diesem Augenblick nicht mehr zu sagen gab.

    *   *   *

Scan, OCR, RTF, ePub 2012 von einem
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