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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist
Autoren: Rose M J
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Kaffeetassen aus der Kochnische. Er goss ihnen beiden ein.
    „Ich möchte nichts.“ Emeline schüttelte den Kopf, als er die Tasse vor sie hinstellte.
    „Trink es trotzdem.“ Er ging durch den Raum und lehnte sich mit seiner Tasse an die Tür. Hauptsache, er war so weit wie möglich weg von ihr. Er wollte ihr verfluchtes Parfüm nicht riechen, und er wollte den Pulsschlag an ihrem Nacken nicht se hen.
    Wie ein Kind nahm sie die Tasse in beide Hände und nippte gehorsam. Der erste Schluck brannte wie Feuer, aber der nächste war nicht mehr ganz so scharf, und der danach war schon fast mild.
    „Danke“, sagte sie. „Du hast mir das Leben gerettet.“
    „Diesmal war ich vorbereitet.“
    „Was meinst du?“
    Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“
    „Du meinst, damals warst du nicht vorbereitet, und deshalb konntest du Solange nicht retten?“
    „Ich hatte keine Ahnung damals.“ Lucian trank noch einen Schluck Scotch.
    „Warum bist du zurückgekommen?“
    „Ich habe Danzinger gesehen, als ich gegangen bin. Er hat vor der Ladentür gestanden wie ein normaler Kunde, deshalb habe ich ihn nicht beachtet. Dann saß ich im Wagen, und mir ist klar geworden, dass der Mann sich ganz und gar nicht wie ein normaler Kunde verhalten hat. Warum hat er vor der Tür gewartet? Warum ist er erst in den Laden gegangen, als er der einzige Kunde war? Außerdem hatte der Laden schon geschlossen. Ich hatte ein komisches Gefühl, das war alles. Keine Hinweise aus alten Tagebüchern wie du.“
    Der Seitenhieb saß, Emeline zwinkerte zweimal. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte es nicht über die Lippen. Schließlich platzte es aus ihr heraus: „Lucian, lass mich bitte wenigstens erklären, was mit Andre war und warum …“
    „Ich weiß schon. Du hast niemanden außer ihm. Er ist dein Vater, du liebst ihn. Das begreife ich schon. Wir brauchen das nicht alles durchzukauen.“
    „Aber du hast mir das Leben gerettet.“ Ihr brach die Stimme.
    „Das ist mein Job. Ich schütze wertvolle Dinge.“
    „Dinge?“
    „Ich will nur nicht, dass du mich um Verzeihung bittest. Aber möchtest du wissen, was so verdammt ironisch bei alldem ist …“ Er hatte die Stimme erhoben, und jetzt schrie er sie an, oder vielleicht schrie er auch sich selbst an. „Du hast mich dazu gebracht, dass ich mich mit Solange auseinandersetze. Dass ich mich ihr wirklich noch einmal gestellt habe. Und ich habe endlich kapiert, dass ich sie auf ein Podest gestellt habe. Dass sie in meiner Erinnerung zu dieser unmöglich perfekten Frau geworden war. Und die Ironie an alldem ist, dass ich nicht mehr sie wollte. Verstehst du, was ich meine? Ich wollte wirklich dich –nur dich. Dich! Das ist doch das Letzte, oder?“
    Sie beugte sich nach vorn und schlug die Hände vors Gesicht. Ihr blondes Haar fiel wie ein Vorhang herab und verstärkte noch die Distanz zwischen ihnen.
    Lucian wollte gehen, am liebsten hätte er sich zur Tür hinausgestürzt und das alles hinter sich gelassen. Aber er konnte sie nicht so alleine lassen. Die Sekunden vergingen. Sie weinte stumm, aber ihre Schultern zuckten bei jedem Schluchzer.
    „Hast du es für ihn getan? Für einen Mann, der …“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Er wollte etwas sagen, das ihr wehtat, aber er sprach es nicht aus. Sie tat ihm leid, weil sie sich so viel Mühe gegeben hatte, auch wenn es für den Falschen gewesen war. Lucian drückte die Finger an die Schläfen und massierte sie. Es war eine automatische Geste, immer wenn er Kopfschmerzen hatte.
    Aber trotz all der verwirrenden und traurigen Ereignisse und obwohl er vollkommen erschöpft war, hatte er keine Kopfschmerzen. Seit gestern Abend waren sie verschwunden. Es war ihm nur bis jetzt nicht aufgefallen. Irgendwann während der Geiselnahme hatten die Schmerzen einfach aufgehört, und sie waren nicht mehr wiedergekommen.
    Heute Morgen hatten ihn auch keine Albträume geweckt. Keine geisterhaften Frauen hatten in seinen Träumen gespukt.
    Schließlich senkte Emeline die Hände. Sie hatte Flecken im Gesicht, ihre Augen waren geschwollen und rot vom Weinen. Ihre Haare waren durcheinander. Die vertraute und echte Narbe über ihrer Augenbraue stach überdeutlich aus ihrem bleichen Gesicht heraus. Sie sah sich selbst im Spiegel, der dem Tisch gegenüber an der Wand hing, und reagierte sofort. Schnell wischte sie sich die Tränen ab und strich sich übers Haar. Dann lachte sie ein bisschen, aber es klang immer noch wie ein Schluchzen.
    „Versprich mir“,
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