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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist
Autoren: Rose M J
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Vater vorbrachte. Lucian hoffte, dass sie zumindest so tat, als wüsste sie nicht, wovon er sprach. Aber sie reagierte gar nicht. Emeline gab keinen Laut von sich. Ihr Schweigen kam einem Schuldgeständnis gleich.
    „Dein Vater ist alt und krank, aber das befreit ihn nicht von seiner Schuld. Er ist der Teufel in dieser Geschichte. Und wenn er der Teufel ist, was bist dann du, Emeline?“ Wieder wartete Lucian auf eine Reaktion. Ihr Schweigen machte ihn nur noch wütender. „Was hast du dir gedacht? Dass Andre sicherist, wenn du mir vorspielst, du wärst die wiedergeborene Solange? Dachtest du, es würde mich so aus der Bahn werfen, dass ich die Wahrheit nicht mehr sehe?“ Lucians Lachen klang bitter. „Na, herzlichen Glückwunsch! Du hast wirklich eine brillante Vorstellung hingelegt. Wie hast du es gemacht? Hast du Solanges Tagebücher gelesen? Ihre Briefe? Woher hast du von den Initialen in dem Baum gewusst? Wo hat sie etwas darüber geschrieben? Aber das Allerbeste war, wie du selbst dich so sehr gegen die Vorstellung gewehrt hast. Das war wirklich genial! Alle diese Vorwürfe, dass ich dich als die sehen soll, die du wirklich bist, und wie schwer es für dich war, mit der Verzweiflung von Andre und Martha zu leben.“
    Emeline war sehr bleich geworden, und an ihrem traurigen Blick hätte man vielleicht ablesen können, was in ihr vorging. Doch Lucian traute seiner Einschätzung, was Emeline betraf, nicht mehr.
    „Sag mir, woher du das mit den Initialen wusstest.“
    „Es stand in ihrem Tagebuch.“
    „Stand da auch, dass sie wollte, dass ich sie male?“
    Emeline nickte.
    „Hat er gewollt, dass du mich so an der Nase herumführst?“
    „Du verstehst das nicht. Sein Leben war danach vollkommen zerstört.“ Sie redete hastig und laut, als müsse Lucian doch begreifen, welche Tragödie sich im Leben von Andre Jacobs abgespielt hatte. „Es war ein Unfall, der nie hätte passieren sollen. Er hat nie damit gerechnet, dass es zu einem Mord kommen könnte. Ein simpler Diebstahl, das war alles.“
    „Er ist nichts als ein geldgieriger Scheißkerl, der für den Tod seiner Tochter verantwortlich ist.“
    „Denkst du denn, das weiß er nicht selbst am besten?“, schrie sie ihn an.
    Lucian ging zur Tür. Er hatte die Hand schon auf der Klinke, doch er drehte sich noch einmal um. „Die Polizei wird deinenVater morgen früh festnehmen.“ Lucian stand einen Augenblick still und blickte zum letzten Mal über den Raum hinweg auf sie, auf das Schaufenster, auf den ganzen Laden. „Sag Andre, dass es den Richter gnädiger stimmt, wenn er sich selbst anzeigt, bevor wir ihn festnehmen. In seinem Alter und bei seinem schlechten Gesundheitszustand lässt sich das Gericht vielleicht darauf ein, dass die Haftstrafe in Hausarrest umgewandelt wird.“
    Lucian öffnete die Tür. Vor ihm stand ein gut gekleideter Mann, der gerade die Hand gehoben hatte, um zu klingeln. Er trug einen leichten braunen Anzug und hatte ein rechteckiges Paket unterm Arm, das in schlichtes braunes Papier gewickelt war. Irgendetwas an ihm kam Lucian bekannt vor, aber es war ihm egal. Er wollte nur noch raus und fort hier. Er hielt dem Mann die Tür auf und ging zu seinem Wagen.
    Lucian steckte den Schlüssel in die Zündung. Er war wütend – vor allem auf sich selbst, weil er so ausgerastet war. Er hätte einfach nicht hierherkommen sollen. Aber wenigstens hatte er es nun hinter sich gebracht. Auf der Uhr am Armaturenbrett war es 18.26 Uhr. Nicht einmal zwanzig Minuten war er in dem Laden gewesen. Es hatte sich angefühlt, als wären es Jahre gewesen. Zwanzig Jahren, um genau zu sein. Lucian starrte wieder auf den Laden.
    JACOBS RAHMUNGEN – seit 1933 stand da in goldenen Buchstaben auf dem dunklen Glas der Tür. Hinter dem Schaufenster waren ein halbes Dutzend kostspieliger Goldrahmen ausgestellt. Während der Öffnungszeiten konnte man durch die Tür ins Innere des Ladens blicken. Doch die Jalousie war heruntergelassen. Die Öffnungszeiten standen in kleineren Buchstaben, doch ebenfalls in Gold auf der Tür. MONTAG BIS FREITAG, 10 bis 17 Uhr – SAMSTAGS GESCHLOSSEN.
    Lucian konnte die Worte vom Auto aus gut erkennen. Der Laden schloss um 17 Uhr. Aber warum hatte dann ein Kunde vor der Tür gestanden, als Lucian gegangen war?
    Weil es kein Kunde gewesen war. Lucian kannte diesenMann. Er hatte ihn schon zweimal getroffen, hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt, ihn getröstet.
    Lucian stürzte aus dem Wagen und rannte zum Laden. Die Tür war
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