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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke
Autoren: Nancy Salchow
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„Außerhalb der Stadt… Ja… ein, zwei Stunden…“
    Er legt auf und fragt sich, wofür genau er ein, zwei Stunden braucht. Warum ist er hier? Die Frau. Er kann sich genau an den Gedanken erinnern, aber nicht daran, wie er hergefunden hat. Er schaut sich um. Keine Menschenseele. Nur er und ein abgerissener Gedankenfaden.
    Er läuft den Weg in langen Schritten ab, ohne zu wissen, wonach er sucht. Der Hochsitz. Inmitten des Feldes steht er wie eine Eingebung vor ihm. Eine Eingebung ohne Inhalt. Eine Eingebung ohne Sinn. Trotzdem verlangt es ihm nach Aufklärung, nach irgendeinem Hinweis. Der Mais schiebt sich ihm in den Weg, während er sich dem hölzernen Thron nähert. Abgelenkt von den langen Blättern, die ihm die Sicht versperren, fällt er fast über einen Gegenstand am Boden. Noch bevor er seinen Blick zum Hindernis vor seinen Füßen senken kann, wird ihm klar, dass es kein Gegenstand ist.
    Ihr Körper liegt regungslos vor ihm. Ein Anblick, der ihn bis ins Mark durchbohrt und augenblicklich erstarren lässt. Ist es tatsächlich möglich? Dieselbe Frau? Am selben Ort, den er so oft gesehen und doch nie betreten hat? Das tragische Ende einer Flucht, die er in seinen Visionen beobachtet hat und doch nicht verhindern konnte?
    Für einen Moment hält er den Atem an, als könnte ihm jedes Geräusch, jede Bewegung gefährlich werden. Ihre weit aufgerissenen Augen scheinen ihn regelrecht anzustarren. Ein ihm inzwischen beinahe vertrauter Blick. Augen so dunkel wie ihr Haar. Er kann nicht erkennen, ob sie verletzt ist. Langsam bückt er sich und greift nach ihrer Hand. Unter ihren Fingernägeln klebt schmutziges Blut. Kein Puls. Die Haut ist blass, fast weiß und übersät mit Staub, als hätte sie jemand umgedreht und das Gesicht, das vorher in den Traktorspuren des Feldes lag, dem Himmel zugewandt. Sein Herz schlägt bis zum Hals.
    Je weiter er sich über sie beugt, desto sicherer ist er. Sie ist es. Sie ist es wirklich. Die Frau aus seinen Gedanken. Die Frau, die aufgehalten werden musste. Die Frau, die niemandem etwas erzählen durfte. Das Ende eines fremden Lebens. Ein Leben, das ihm für den immer wiederkehrenden Bruchteil von Sekunden so nahe war, so vertraut und doch so fern. Die Augen, die nicht mehr schauen, sondern nur noch ein Abbild ihres letzten angsterfüllten Blickes sind, lassen ihn nicht los. Ein Blick, der die letzten Sekunden eines Lebens erzählt, in denen sie nur noch eines sah: Ihren Mörder.
    Tausend Gedanken durchfahren ihn. Warum hat er nichts getan? Warum hat er nicht eher nach ihr gesucht? Irgendwie wäre es doch sicher möglich gewesen, sie vor dieser schrecklichen Tat aufzusuchen. Ist es letztendlich sogar seine Schuld, dass sie tot ist? Hätte er es verhindern können? Und warum haben ihn die seltsamen Gedanken nicht eher hergeführt? Wer bestimmt den Zeitpunkt dieser merkwürdigen Visionen, die scheinbar nur das Ziel haben, ihn verrückt zu machen anstatt von irgendeinem Nutzen zu sein? Worin liegt der Sinn, dass er von all diesen Dingen weiß, wenn er sie doch nicht verhindern kann?
    Ein Rascheln im Maisfeld unterbricht seine Gedanken. Er lässt ihre leblose Hand fallen, als das Geräusch ihn erreicht. Ein Tier? Ein Killer? Ein Zeuge? Nichts von alledem käme ihm gelegen. Reflexartig beginnt er zu laufen. Das Rascheln folgt ihn. Er läuft. Schneller. Die störrischen Blätter peitschen ihm ins Gesicht. Es fällt ihm schwer auszumachen, ob er selbst ein Geräusch verursacht, als er durch den Mais zum Weg zurückläuft oder ob es einen anderen Ursprung hat. Schneller. Weiter. Aufgewirbelter Staub unter seinen Füßen. Der Schweiß klebt kalt auf seiner Stirn. Der Weg, sein Wagen scheinen endlos weit entfernt.
     

Kapitel 3: Wie schön sie ist
     
     
    „ Deshalb freuen wir uns ganz besonders, ihn heute in unserem kleinen Theater begrüßen zu dürfen. Meine Damen und Herren, heißen Sie herzlich mit mir willkommen: Oskar Holstein.“
    Der Applaus erscheint ihm surreal, die Menge vor ihm gesichtslos. Fast mechanisch nimmt er am Pult auf der Bühne Platz. Das Buch vor ihm ist bereits aufgeschlagen, darauf wartend, durch seine Worte lebendig zu werden.
    Seit mittlerweile drei Tagen ist er von den seltsamen Gedanken verschont geblieben. Der Tod der Frau scheint den Bildern in seinem Kopf ein Ende bereitet zu haben. Was ihn jetzt heimsucht ist jedoch wesentlich schlimmer. Schuldvorwürfe. Hätte er sie retten können? Angst. Wer ist ihm durch den Mais gefolgt? Vor allem aber ist es die
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