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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke
Autoren: Nancy Salchow
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Frage nach dem Warum , die ihm den Schlaf und das Wachsein gleichermaßen erschwert: Warum habe ich es gesehen? Warum habe ich die Gedanken gehört? Nicht nur gehört. Praktisch selbst gedacht .
    Er blättert in dem Buch bis zur Seite 17. „Ich freue mich, dass sie den weiten Weg extra für meine bescheidene Lesung auf sich genommen haben.“
    Lachen im Publikum. Es scheint leicht zu beeindrucken zu sein.
    „ Heute lese ich Ihnen aus meinem dritten Roman Das Lächeln im Regen vor. Wie ich sehe, hat es auch ein paar Männer her verschlagen.“ Sein Standardspruch. „Haben Ihre Frauen Sie genötigt? Seien Sie sich meines Mitgefühls versichert, meine sehr verehrten Herren.“
    Erneutes Lachen in der Menge. Ja, sehr leicht zu beeindrucken.
    Er beginnt zu lesen. Die Zeilen vor ihm sind längst ein Teil von ihm geworden und verlangen ihm für eine Interpretation keine Konzentration mehr ab. Die wievielte Lesung? Die Hundertste? Die Hundertzwanzigste?
    Seine Worte erscheinen ihm ebenso mechanisch wie seine Bewegungen beim Umblättern der Seiten. Der Begeisterung im Publikum tut es jedoch keinen Abbruch. Lachendes Gemurmel. Raunen bei den markanten Stellen. Seufzen bei rührenden Passagen. Er kennt die Vorlieben seiner Leser. Alles vertraut. Und dennoch fremd.
    Die Frau klebt ihm wie eine verdrängte Erinnerung an den Fersen. Eine Erinnerung an eine Zeit, die jemand anderes erlebt hat. Jemand anderes. Nicht er. Aber woher wusste er, wo er sie finden würde? Sein anonymer Anruf bei der Polizei hatte zwar zum Auffinden der Leiche geführt, konnte ihm jedoch keinen inneren Frieden bringen. Niemand scheint dem Verbrechen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Lediglich eine nüchterne Schilderung der Fakten in der Zeitung des nächsten Tages. Tote Frau im Maisfeld aufgefunden. Um die Dreißig. Identität unbekannt. Bisher.
    Es überkommt ihn wieder. Das seltsame Gefühl der Übelkeit. Die Erinnerung an ihre leblose Hand in seiner. Das Blut unter ihren Fingernägeln. Warum war nur dort Blut? War es vielleicht gar nicht ihres? In der Zeitung stand etwas von erdrosselt . Deshalb hatte er keine Verletzung finden können. Aber die Zeit war auch zu knapp gewesen. Das Geräusch im Mais. Seine Flucht vor dem unsichtbaren Verfolger. War es vielleicht doch nur seine Einbildung, die ihm einen Streich gespielt hatte? Nur ein Windhauch, der ihn in Panik versetzt hatte? Aber was hätte es ihm gebracht, länger bei ihr auszuharren? Sie war tot. So tot wie man nur sein kann.
     
     
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    Die Arbeit an seinem Manuskript gestaltet sich noch schwieriger als bisher. Die Geschichte um Michelle und Boris läuft Gefahr, sich zur emotionslosen Ansammlung von Worten zu entwickeln.
    Oskar kennt diese Krisen nur zu gut. Während er bei seinem ersten Werk noch blauäugig und voller Leidenschaft an die Arbeit gegangen war, bröckelte mit jeder höheren Position auf der Bestsellerliste auch die Begeisterung für die Sache. Menschen begannen, sich Urteile über ihn zu bilden, Beweggründe für seine Bücher zu entdecken, die er selbst nicht kannte. Fast kam es ihm vor, als nähmen sich andere das Recht heraus, ihm zu sagen, was seine Geschichten bedeuten. Mit der Zeit hatte er sogar angefangen, ihnen zu glauben. Botschaften in seinen Zeilen entdeckt, die ihm andere einreden wollten und die im bis dahin selbst nicht in den Sinn gekommen waren.
    Während er die Gradwanderung zwischen euphorischer Begeisterung seiner Leser und dem peniblen Zerpflücken seiner Handlungsstränge anfangs noch als eher spannend empfunden hatte, verließ ihn mit jedem neuen Buch mehr und mehr die unschuldige Liebe zum geschriebenen Wort. Auch jetzt vermisst er sie, die Unschuld.
    Beim Streifzug durch seine Fantasie, auf der Suche nach einem geeigneten Beginn für das dritte Kapitel, offenbart es sich ihm plötzlich. Das Bild eines fremden Raumes. Maritime Einrichtung. Fischernetze an der Decke. Das Licht scheint in dünnen Strahlen durchs Fenster. Ein scheinbar farbloses Sofa an der Wand. Am Schreibtisch eine Frau, dem Betrachter den Rücken zugewandt. Schreibt sie? Langsam dreht sie sich um. Ihr fragender Blick wird zum Lächeln. Unbeschwertheit. Wie schön sie ist. Ich muss sie spüren. Jetzt.
    Er kennt das Gesicht. Nur hat er es bisher nicht lächelnd, sondern ausschließlich panisch gesehen. Panisch in seinen Gedanken. Leblos in seiner Realität.
    Beinahe widerstandslos gibt er sich den fremden Gedanken hin. Der Wunsch, sie zu verstehen, steht über allem. Woher
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