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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke
Autoren: Nancy Salchow
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dass es zwangsläufig auch mit deinem Buch zu tun haben muss, wenn ich bei dir anrufe.“
    Oskar empfängt selten Besuch in seinem Arbeitszimmer. Nur bei Lennard macht er hin und wieder eine Ausnahme.
    „ Es tut mir leid, dass ich nicht zurückgerufen habe. Ich war mitten im dritten Kapitel. Eine sehr emotionale Passage, die ich mehrmals überarbeiten musste, bis sie rund war.“
    „ Rund“, wiederholt Lennard ungläubig. „Wie lange kennen wir uns, Oskar?“
    „ Jede Unterhaltung, die mit dieser Frage beginnt, endet in einer Diskussion um Happy Ends. Der Roman wird alle überzeugen, glaub mir.“
    „ Es geht mir nicht um den Roman, Oskar. Ich mache mir Sorgen um dich .“ Er setzt sich auf den Besuchersessel. „Du bist in letzter Zeit total neben der Spur. Bist kaum wieder zu erkennen.“
    „ Ich werde alt, Lennard. Genau wie du.“
    „ Du bist noch nicht mal 50. Mach dich nicht lächerlich.“
    „ Das einzige, das lächerlich ist, sind Unterhaltungen über meinen Gemütszustand. Es geht mir gut.“
    Lennard hat recht. Oskar ist neben der Spur. Aber ist es tatsächlich so offensichtlich, dass es an etwas anderem liegt als dem ständigen Kampf mit den Zeilen seines Manuskripts?
    Lennard beugt sich über den Schreibtisch. „Was ist los, Oskar?“
    „ Es spielt keine Rolle, was los ist. Du würdest es mir eh nicht glauben.“
    „ Probier es aus.“
    Lennards Zuversicht irritiert ihn. Der Gedanke, sich endlich jemandem anzuvertrauen, ist verlockend.
    „ Ich sehe Dinge, Lennard“, entfährt es ihm in einem Impuls, dem er unbedacht folgt.
    „ Was siehst du?“
    „ Vielleicht ist Denken das richtige Wort. Es scheint, als ob ich die Perspektive eines Fremden einnehme. Für den Bruchteil von Sekunden. Seine Gedanken eingeschlossen. Ich sehe, was er sieht. Und ich denke, was er denkt.“
    „ Aber natürlich tust du das.“ Lennard lächelt. „Du bist Autor, Oskar. Es ist dein Job, dich in andere Figuren hineinzuversetzen. Wie sie zu denken. Wie sie zu fühlen. Wie sie zu sehen .“
    „ Nein.“ Oskar erhebt sich aus seinem Stuhl. „Das ist es nicht, was ich meine. Verdammt, Lennard, es geht um echte Menschen. Echte Gedanken. Und echte Verbrechen.“
    „ Verbrechen? Du schreibst Liebesromane.“
    „ Eine Frau ist ermordet worden.“
    „ Eine Frau?“
    „ Und ich habe es gesehen. Zumindest ihre Flucht. Jemand ist ihr gefolgt, weil er befürchtet hat, sie könnte etwas weitererzählen.“
    „ Aber ...“ Lennard bricht ab.
    „ Ich kann es dir nicht erklären, Lennard. Tatsache ist, dass ich diese Dinge sehe, sie denke . Ich weiß nicht, wann der nächste Gedanke kommt und wie lange er anhält.“ Oskar redet sich in Fahrt. „Genauso wenig, wie ich erkennen kann, ob es sich um einen Gedanken aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft handelt.“
    Lennard kommt näher. Legt seine Hand auf seinen Arm. Seine Stimme ist ruhig. „Das ist wirklich nichts, worüber du dir Sorgen machen musst, Oskar. Du bist Schriftsteller aus Leidenschaft. Du bist, was du schreibst. Und das so sehr, dass Realität und Fantasie schon mal durcheinander geraten können. Ich meine, du schläfst kaum noch und Gaby sagt auch ...“
    „ Hör auf!“, unterbricht ihn Oskar wütend. „Hör auf, mir einzureden, dass ich überarbeitet bin. Ich bin nicht verrückt, Lennard. Ich weiß, was ich gesehen habe. Diese Frau ist real. Das heißt, sie war real. Bevor sie jemand umgebracht hat.“
    Lennards Blick nimmt seltsame Züge an. Oskar kann es ihm nicht verübeln. Er selbst kann es nicht einordnen, wie kann er es da von jemand anderem erwarten? Vielleicht ist er wirklich verrückt und seine amateurhaften Ermittlungen in Lilianas Wohnviertel und Barneys Bierscheune lediglich ein Versuch, sich selbst etwas vorzumachen.
    Ehe er seinen eigenen Gedanken zu Ende führen kann, mischt sich ein fremder in sein Bewusstsein. Bilder. Eine dunkle Gasse. Lautlose Schritte, die einem Mann folgen. Lichtkegel, die aus schmuddeligen Kneipen auf den nächtlichen Asphalt fallen. Der Abstand zum Vordermann wird kürzer. Die Bilder verschwimmen zu Gedanken. Wie viel weiß er? Warum sucht er nach Lilli? Der Mann, dem er folgt, wird langsamer. Bleibt stehen.
    Noch bevor er sich umdrehen kann, erkennt er ihn. Seinen Mantel, das dünner werdende Haar, den schwarzweiß karierten Kragen seines Hemdes. Er selbst ist der Verfolgte.
     
     
    ________
     
     
    Er kann sich nicht erinnern, warum er hergekommen ist. Als er sich auf dem Flur des Gebäudes
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