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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke
Autoren: Nancy Salchow
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sein als sein jetziger Zustand?
    Er öffnet den Kühlschrank. Ein halbes Glas Apfelmus und ein angeschnittener Käse. Der letzte kümmerliche Rest seines Ehealltags. Er wird es wieder in Ordnung bringen. Den Kühlschrank. Und sein Leben.

Kapitel 11: Roter Mohn
     
     
    Sie schiebt das kleine Brett erneut zur Seite und zieht das Foto vorsichtig heraus. An der Frontseite im Inneren des Hochsitzes, direkt neben der Fensterscheibe, ist es ein bisher unentdecktes Versteck geblieben. Im Laufe ihrer Bekanntschaft mit diesem Rückzugsort hat sie das Foto kein einziges Mal in anderer Position vorgefunden, geschweige denn vermissen müssen. Sie ist sich sicher: Niemand außer ihr, niemand außer ihr und Lilli, weiß davon.
    Noch immer hat der heimliche Schnappschuss die Macht, sie bis ins Mark zu treffen. Lillis Blick, das unbefangene Lächeln. Ihre Wangen, eng aneinander geschmiegt. Wie viele Male hat sie sich in der Nacht nach dem Anblick des Bildes gesehnt. Aber es wäre zu gefährlich gewesen, es mit nach Hause zu nehmen. Eine Gefahr, die Lilli bis zuletzt unterschätzt hat. Warum nur hatte sie ihr nicht glauben wollen, dass es keine offizielle Zukunft für sie als Paar geben darf? Dass ihre Beziehung nur im Stillen gelebt werden kann? Warum hatte sie sie zu einer Entscheidung gezwungen und ihr sogar gedroht, Martin aufzusuchen und ihm alles zu erzählen? War sie wirklich zu naiv, um in vollem Umfang zu erfassen, welche Auswirkungen diese Bekanntmachung auf Tanjas Ehe, ihren Ruf als Schuldirektorin, auf ihr ganzes Leben gehabt hätte?
    Sie möchte weinen. Zu groß ist die Sehnsucht, sie im Arm zu halten, ihren warmen Körper zu streicheln. Ihre Lippen zu berühren. Eins zu sein und für einen kurzen Moment den Rest der Welt zu vergessen. Begehren, das sie in der Form nie zuvor gekannt hatte. Schon bei ihrer ersten Begegnung mit Lilli hatte sie die Anziehungskraft gespürt. Keiner von beiden hatte jemals eine Erfahrung wie diese gemacht und dennoch wussten sie, dass sie es wollten. Mehr als alles andere. Und auf gewisse Weise will sie es noch heute. Das unbezahlbare Gefühl des sich Fallenlassens, alle Hemmungen auszublenden und sich ganz und gar dem Gefühl hinzugeben, das nur Lilli in ihr entfachen konnte. Es hätte perfekt sein können. Für immer perfekt. Die heimlichen Treffen in ihrem Büro, in Lillis Wohnung, im Hotel und manchmal sogar auf dem Hochsitz. Das Überflüssigwerden von Worten, wenn sie sich trafen. Das Verlangen, wenn sie sich gegenseitig die Kleider vom Körper streiften, um sich ganz und gar aufeinander einzulassen, während sie den Rest der Welt ausblendeten.
    Noch immer spürt sie ihre weiche Haut unter ihren Fingern. Das gedämpfte Licht, das sich in ihren Augen spiegelte. Die Augen, mit denen sie sie ansah, als gäbe es nichts und niemanden auf der Welt, der ihren Platz hätte einnehmen können. Als wäre jede Frage überflüssig und das noch so Ungewöhnliche selbstverständlicher als alles, was ihr Leben vor ihrem Treffen ausgemacht hatte. Es war ihr Geheimnis, das sie bei den Nachmittagen in der Schule, beim Vorlesen zwischen den Kindern, mit einem heimlichen Lächeln miteinander teilten. Die gemeinsame Vorfreude auf den Abend, der schon bald zum krönenden Abschluss einer jeden Begegnung wurde. Sie hatte geglaubt, war sich sogar sicher gewesen, dass auch Lilli diese Anonymität zu schätzen wusste. Dass es auch in ihrem Sinne war, dieses Geheimnis für immer unausgesprochen zu lassen.
    Sie steckt das Foto zurück an seinen Platz und schiebt das Brett wieder herüber. Verborgen. An einem Ort, den nur noch sie kennt.
    Wie auf Befehl hört sie unter dem Hochsitz ein Knacken. Schritte auf dem Geäst. Er ist da. Endlich. Sie war sich nicht sicher, ob er ihrer Botschaft folgen würde, aber seine Neugier scheint auch diesmal gesiegt zu haben. Welch glückliches Schicksal, dass sich eben diese Neugier, die ihr zunächst ein Dorn im Auge gewesen war, nun als Vorteil erweist. Ein aufgeklärtes Verbrechen ist besser als ein unaufgeklärtes. Vor allem, wenn der Angeklagte keine Chance hat, die Anschuldigungen zu widerlegen. Er ist das perfekte Opfer und der perfekte Täter in einem. Das Glück meint es gut mit ihr.
    Das Knarren der Stufen ist bis oben zu hören. Sie spürt ihr Herz bis zum Hals schlagen. Die Geräusche kommen näher. Gleich.
    „ Tanja.“ Er hält die Luke mit einer Hand auf. „Sie? Ich hatte gedacht …“
    „ Ich muss Sie enttäuschen. Kenny ist leider nicht hier. Die Einladung kam
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