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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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kleineBuddha aus dem fünfzehnten Jahrhundert schimmerte auf seinem Edelsteinthron im Sonnenschein. Corbett reckte ihn für einen Moment hoch empor und gab ihn dann an Fiona weiter. »Wer von euch wurde ebenfalls von den Gottestötern beraubt?« fragte er und wickelte eine Statue der Tara aus, die einst in Mings Museum und später in Dolans Sammlung gestanden hatte.
    Shan hatte damit gerechnet, daß sie den Koffer voller Artefakte finden würden, den Lodi aus Seattle mitgebracht hatte, doch dann waren sie außerdem auf die beiden Kisten gestoßen. McDowell hatte den Rest der bei Dolan entwendeten Exponate per Frachtpost an die Klinik geschickt. Und nun verteilte Corbett die komplette Sammlung an die Hügelleute, nachdem er seinem Vorgesetzten telefonisch mitgeteilt hatte, es sei ihm zum erstenmal in seiner Laufbahn nicht gelungen, das Diebesgut ausfindig zu machen.
    Shan sah zu, wie der Koffer geleert und die erste Kiste geöffnet wurde, und ging dann in den Schatten, wo eine dunkel gekleidete junge Frau saß und die anderen beobachtete. Das Lächeln, mit dem Liya ihn begrüßte, wirkte gezwungen. »Gendun sagt, im Anschluß an die Trauerzeit wird hier eine weitere Feier stattfinden«, verkündete er.
    Liya schien ihn nicht zu hören. »Für uns gibt es keinen Ausweg mehr«, sagte sie. »Nach Lodis und Punjis Tod wird auch Bumpari sterben.«
    »Aber Zhoka ist wieder am Leben«, wandte Shan ein. »Bumpari kann tun, was es schon immer getan hat, nämlich Kunstwerke für das Kloster herstellen.«
    »Ich habe eine Nachricht gefunden, die Punji an Lodi geschickt hatte. Sie wollte nach Dharamsala reisen und den Leuten des Dalai Lama die ganze Geschichte erzählen. Sie schrieb, das würde den Schutz von Bumpari sichern. Jetzt ist niemand mehr da, der diese Reise antreten und in unserem Namen sprechen könnte.«
    »Ich kenne jemanden. Sie ist das neue Oberhaupt von Bumpari.«
    »Ich habe nichts, was die Leute jenseits der Grenze interessieren würde.«
    »Du könntest ihnen erzählen, daß das chinesische Kaiserreich fast vom Steindrachen-Lama regiert worden wäre und sich von hier aus beinahe das Schicksal ganz Chinas geändert hätte. Das war der Ursprung von allem, was geschehen ist.«
    »Wovon redest du da? Es ging doch nur um diesen Schatz.«
    »Der Schatz war hier wegen des amban . Und der amban war hier wegen der Kunstwerke aus Zhoka, mit denen er den Kaiser ehren wollte.« Als er Liyas fragende Miene sah, setzte er sich neben sie und fing mit der Geschichte ganz von vorn an. Wenig später fiel ihm auf, daß einige Tibeter sich um sie geschart hatten. Nach zehn Minuten lauschte ihm jeder dort auf dem Torhof.
    Als Shan geendet hatte und immer noch mehrere zweifelnde Gesichter sah, nahm er einen Beutel, der seit dem Aufbruch aus Peking um seinen Hals hing, und holte daraus eine Schriftrolle hervor. »Dies sind die letzten beiden Briefe, die der amban und der Kaiser einander geschrieben haben, nachdem Qian Long seinem Neffen die Thronfolge angetragen hatte. Der amban wußte, daß er zu krank war, um das Angebot anzunehmen oder auch nur aus Zhoka abzureisen. Der Text ist auf tibetisch verfaßt und nicht besonders umfangreich, denn das meiste war bereits gesagt worden.« Shan blickte in die erwartungsvollen Gesichter und las vor:
    Geschätzter Onkel, ich kann mir auf der ganzen Welt keine größere Ehre und keine Auszeichnung vorstellen, die mich dermaßen tief berührt hätte. Ihr bittet mich um eine schnelle Entscheidung, aber sie wurde mir durch den Lauf der Zeit und die Gebrechlichkeit meines Leibes, den ich nun bald verlassen muß, bereits abgenommen. Schon oft habe ich gesehen, daß der Wind die Blüten von einem Baum bläst, aber noch nie, daß er sie später wieder anfügt. Ich kann die mir erwiesene Ehrung nur mit Wahrheit vergelten, und die Wahrheit lautet, daß kein auch noch so hohes Amt mir das gleiche Maß an heiterer Gelassenheit geschenkt hätte wie mein Dasein als Steindrachen-Lama hier in dem Mandala im Innern des Berges, wo Weisheit und Schönheit eins sind. Das Kloster, das mir gegeben wurde, ist mir Kaiserreich genug. Hätten wir uns noch einmal gesehen, Onkel, so hätte ich Euchgebeten, Eure Entscheidung zu überdenken. Denn wäre ich Herrscher geworden, so hätte ich nach Mitleid und nicht nach Macht gestrebt, nach Güte und nicht nach Gold. Als Tibeter bin ich ein besserer Chinese als jemals zuvor.
    Shan starrte die zweihundert Jahre alten Zeilen an und merkte anfangs gar nicht, wie still es um ihn
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