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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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alarmieren. Immerhin sind die Plünderer offensichtlich aus Lhadrung verschwunden.«
    Er stieg aus. Shan folgte ihm. Die Soldaten, die hier kampiert hatten, waren ebenfalls nicht mehr da. Als Tan sich die nächste Zigarette anzündete, wandte Shan sich zum Zaun in fünfzehn Metern Entfernung um. Es war der Ruhetag der Häftlinge, und am anderen Ende des Lagers saßen einige der alten Männer im Kreis am Boden.
    »Ich gehe zurück in die Berge«, sagte Shan. Er fühlte sich unbehaglich. Tan lief vor dem Wagen auf und ab und tat so, als hätte er ihn nicht gehört. Ein Posten vor dem Tor schien Shanzu erkennen und raunte seinem Kameraden jenseits des Gitters etwas zu, der Shan daraufhin mißtrauisch beäugte.
    Als der Oberst schließlich zur Fahrertür ging und wieder einsteigen wollte, kamen aus dem Verwaltungsgebäude drei Männer zum Vorschein: zwei Aufseher und ein hagerer Jugendlicher in Fußfesseln, mit frisch geschorenem Kopf und neuer grauer Häftlingskleidung. Schweigend verfolgte Shan, wie die Wachen den Gefangenen zum inneren Zaun zogen.
    »Ich kann seine Vergehen nicht ungeschehen machen und die Dauer seiner Haftstrafe nicht ändern«, sagte Tan. »Aber ich habe die Leute wissen lassen, daß die 404te schlimmer als jede Kohlengrube ist und daß es mir zusteht, diesen Mann zu behalten, weil er mir so viel Ärger gemacht hat.«
    Der Sträfling wurde zum Tor gestoßen, packte mit ausgebreiteten Armen den Zaun und starrte auf die schmalen gebeugten Gestalten im Innern. Reglos ließ er sich die Fesseln abnehmen. Das Tor öffnete sich. Die Aufseher zogen ihn vom Zaun weg und führten ihn durch den mit Stacheldraht bewehrten Korridor ins Lager. Dann aber hob der Mann den Kopf, als würde er die Beobachter spüren, und schaute zu Shan. Es war Ko.
    Als er seinem Vater in die Augen sah, blieb er unwillkürlich stehen und wurde von den Wachen vorangestoßen. Er ließ den Stacheldraht hinter sich und betrat die innere Todeszone. Dort hielt er wieder inne und starrte Shan an. Auch Shan trat mehrere Schritte vor und gelangte in die Todeszone außerhalb des Zauns. Er hörte die Warnrufe der Wachen, doch ein schroffer Befehl von Tan ließ sie verstummen.
    Ko verzog den Mund zu seinem trotzigen Grinsen. Er hob die verletzte Hand mit dem abermals blutigen Verband und grüßte Shan. Auch Shan hob wortlos die Hand, und einen Moment lang standen sie dort, sahen sich an und lächelten. Dann landete krachend der Schlagstock eines Aufsehers auf Kos Schultern. Der Junge ging in die Knie, und der Stiefel eines zweiten Wachpostens verpaßte ihm einen Stoß. Die Männer packten Ko, trugen ihn aus der Todeszone, warfen ihn bäuchlings in den Staub und gingen weg.
    Eine schreckliche Stille senkte sich über das Lager, nur unterbrochen durch das Geräusch des sich schließenden Tors, dessen Riegel mit lautem Klicken zuschnappte. Dann aber humpelte hinter einer der Baracken ein alter Tibeter in zerlumpter Häftlingskleidung hervor und kniete sich neben Ko. Shan hörte etwas, keine unterscheidbaren Worte, sondern eher ein tröstendes Geräusch in der windstillen Luft, während der greise Lama den Arm ausstreckte und dem neuen Gefangenen sanft eine Hand auf den Rücken legte.

Anmerkung des Verfassers
    Zu Anfang des Jahres 1904 zog eine der merkwürdigsten Expeditionen aller Zeiten im indischen Bundesstaat Sikkim über den Jelap-Paß in den Himalaja und weiter ins unbekannte Tibet. Als Reaktion auf die vagen Gerüchte, Rußland wolle versuchen, eine militärische Präsenz im Land zu etablieren, schickte die Regierung Großbritanniens ein Kontingent von fünfzehnhundert Soldaten aus, unterstützt durch fast zehntausend Träger und Tausende von Maultieren, Pferden, Kamelen, Büffeln, Yaks und sogar – wie Peter Fleming in seinem fesselnden Buch Bayonets to Lhasa (Oxford University Press) zu berichten weiß – zwei Mischlinge aus Zebra und Maulesel, allesamt unter der Führung von Colonel Francis Younghusband. Wenngleich diese bewaffnete Invasion eines weitgehend entmilitarisierten Landes nicht zu den Höhepunkten der britischen Außenpolitik zählen dürfte, sollten die menschlichen Dimensionen dieses Feldzugs und seiner Folgen beachtliche Ausmaße annehmen. Colonel Younghusbands Soldaten waren für Gefechte gerüstet, für Seuchen, bittere Kälte und tückische Berge; sie waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf den Kulturkreis, den sie betraten. Britische Truppen mit modernen Maxim-Maschinengewehren trafen auf Tibeter mit uralten
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