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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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war. Als er den Brief dann sinken ließ, sah er die erstaunten Blicke seiner Zuhörer. »Der Kaiser hat geantwortet«, sagte er und zeigte ihnen die zweite Schriftrolle. »Es sind nur wenige Sätze.« Er hob das Blatt und las:
    Edler Neffe, in meinem Herzen habe ich Euch zu meinem Kaiser gekrönt. Ich bin bloß Herrscher über dieses armselige Reich und gebe mich mit den Ereignissen meines kurzen Daseins ab. Ihr hingegen begebt Euch in Welten jenseits der unseren, und Euer Wirken reicht über die Zeit hinaus. Mögen die Götter siegreich sein.
    »Ich habe die Briefe mitgebracht, um sie hier im Tempel zu lassen«, sagte Shan und sah dabei Liya an. »Aber jetzt glaube ich, du solltest sie dem Dalai Lama bringen.« Er gab ihr die Schriftrollen. »Als Geburtstagsgeschenk der Menschen von Zhoka.«
    Gendun strahlte wie ein kleiner Junge.
    Es war später Nachmittag, als Shan und Corbett zum Steinturm hinaufstiegen, um auf den Helikopter zu warten. Der Amerikaner trug ein kleines rechteckiges Päckchen bei sich, das Liya ihm gegeben hatte.
    »Ich habe nachgedacht«, sagte Corbett. »Sie sollten mich begleiten. Ich kann die notwendigen Formalitäten erledigen. Wissen Sie noch, mein Haus auf der Insel? Sie können dort wohnen. Es gibt da Kajaks. Wir können zwischen den Inseln herumpaddeln. Oder gemeinsam angeln gehen. Sie können ein neues Leben anfangen. Das Schicksal schuldet Ihnen ein neues Leben.«
    Shans Überraschung und Dankbarkeit offenbarten sich in einem kleinen Lächeln. Doch nach einem Moment drehte er sich wieder zu den Ruinen um. »Ich habe bereits ein neues Leben«, sagte er.
    »Alle lieben Amerika«, murmelte Corbett seltsam niedergeschlagen. »Jeder will dort leben.«
    »Es ist nicht mein Land«, sagte Shan.
    »Ihr Land hat sich von Ihnen abgewendet.«
    »Das war bloß meine Regierung.«
    Sie saßen schweigend da.
    »Dieser glänzende Ort«, sagte Shan langsam. »Der, den Sie Einkaufszentrum genannt haben. Sie sagten, Sie hätten mich dorthin gebracht, damit ich Amerika kennenlernen könnte. Als ich zur Tür hereinkam, dachte ich zuerst, es sei eine Kirche. Dann habe ich die Menschen dort gesehen. Ich weiß nicht, ich habe keine Worte dafür. Es hat mich irgendwie traurig gemacht. Es tut mir leid.« Doch Shan erinnerte sich noch daran, was Lokesh einst nach dem Besuch einer größeren Stadt gesagt hatte. Die Leute dort hätten schmal und durchscheinend gewirkt, weil sie sich so sehr nach ihren Gottheiten strecken mußten.
    Es wurde wieder still. Corbett nahm einen Stein und warf ihn in hohem Bogen über die Kante hinaus. Da ertönte hinter ihnen das Geräusch des Hubschraubers.
    »Was ist ein Kajak?« fragte Shan, als sie aufstanden.
    Auf dem Rückflug zum Gästehaus sprachen sie kein Wort und schauten lediglich zum Fenster hinaus.
    »Ich muß noch Schreibkram erledigen«, sagte der Amerikaner und ging in Richtung des Konferenzraums davon. Shan legte sich erschöpft auf das Bett in Yaos Zimmer. Als er mitten in der Nacht aufwachte, drang unter der Tür des Konferenzraums noch immer Licht hervor. Shan trat ein. Corbett saß schlafend am Tisch und hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet. Es deutete nichts darauf hin, daß er irgend etwas geschrieben hätte. Er hatte zahlreiche Bleistiftzeichnungen angefertigt, hauptsächlich von Yao und den Lamas. Einige fertige Werke lagen quer über den Tisch verstreut, mehrere Entwürfe lagen zerknüllt am Boden. Shan hob eine dieser Skizzen auf, ein fast vollständiges Bild von Yao mit einem kleinen Buddha in der Hand, strich sie so gut wie möglich glatt, faltete sie zusammen und steckte sie ein.
    Als Corbett am frühen Morgen reisefertig und mit seiner Tasche in der Hand aus dem Haus trat, saß Shan dort unter einem Baum.
    Der Amerikaner sah den Beutel an Shans Seite und wies auf einen der Wagen. »Wohin kann ich Sie mitnehmen?«
    »In die Stadt.«
    »Ich habe gestern abend noch viel nachgedacht. Über das kleine Haus auf der Insel«, sagte Corbett. »Ich werde eine Weile dort wohnen. Und malen.«
    »Sie brauchen doch nicht jetzt schon abzureisen.«
    »Das hier ist erst vorbei, wenn ich den Eltern des Mädchens den Scheck gebracht habe. Außerdem habe ich Bailey angewiesen, das Fresko des Kaisers noch nicht herauszugeben. Ich möchte es mir anschauen, bevor es zurückgeschickt wird.«
    Als Shan einige Minuten später aus dem Wagen stieg, sah er auf Corbetts Reisetasche das Päckchen liegen, das Liya ihm gegeben hatte. »Was war es denn?«
    »Ich habe mich noch
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