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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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Vorderladern, Schwertern und Schutzzaubern aus Papier. Britische Offiziere sahen sich Lamas gegenüber, die Fliegenwedel aus Yakhaar und Gebetsketten schwangen. Keine der beiden Seiten wußte, wie sie sich bei diesen Begegnungen verhalten sollte. Gutmütige Tibeter überreichten den Briten traditionelle Begrüßungsschals, sogar während die Truppen auf Lhasas zusammengewürfelte Armee vorrückten. Die britischen Anführer waren verblüfft, wenn ihre Gegenüber mitunter buddhistische Gebete anstimmten, und die Tibeter genauso verwirrt, als dieBriten Feldlazarette einrichteten, um die tibetischen Verwundeten zu versorgen.
    Am Ende erreichte das Expeditionskorps seinen Bestimmungsort Lhasa, besiegelte das Handelsabkommen, dessentwegen es vordringlich ausgesandt worden war, und zog sich alsbald in die Fußnoten der Geschichte zurück. Doch bei einigen Teilnehmern beider Seiten hatte der Feldzug unauslöschliche Spuren hinterlassen. Für die Bevölkerung der Hochebenen jenseits des Himalaja war zum erstenmal ein Fenster zur Außenwelt aufgestoßen worden, und eine Handvoll Tibeter besuchte Schulen in Indien und England. Auch der letzte Rest von Feindseligkeit wich sehr schnell tiefem Vertrauen, so daß im Jahre 1910, als China einen ersten Versuch unternahm, die Herrschaft in Lhasa an sich zu reißen, der Dalai Lama Zuflucht in Britisch-Indien suchte. Colonel Younghusband nahm schon bald seinen Abschied von der Armee und führte fortan ein spirituell geprägtes Leben. Er gründete den Weltkongreß der Glaubensrichtungen und schrieb später, er habe in Tibet die geistig und seelisch bewegendsten Momente seines langen Daseins erlebt. Bis zu seinem Tod versuchte er, Brücken zwischen den Weltreligionen zu errichten, vor allem zwischen Ost und West. Als er 1942 in England starb, wurde sein Grabstein mit einem Abbild der Stadt Lhasa versehen, und auf seinem Sarg lag eine tönerne Buddhaskulptur. Auch an vielen anderen Briten, die im Auftrag des Militärs oder des Außenministeriums nach Tibet versetzt wurden, ging der Zauber des Landes nicht spurlos vorüber, und sie widmeten sich der Wissenschaft oder Philosophie. Einer von ihnen, David McDonald, stand insgesamt zwei Jahrzehnte im Dienst der Regierungen Großbritanniens und Tibets und hielt diese prägenden Erfahrungen in einer Autobiographie namens Twenty Years in Tibet (Cosmo Publications) fest. Ein anderer Stabsoffizier, Austin Waddell, der das Land zunächst als Geheimagent bereiste, verschrieb sich später der Erforschung der vielschichtigen buddhistischen Traditionen Tibets und wurde auf dem Gebiet der tibetischen Kultur und Religion zur bedeutendsten westlichen Kapazität seiner Zeit.
    Was das entlegene Tibet betrifft, so stellte die Younghusband-Expedition den ersten umfassenden Vorstoß des Westens dar. Am kaiserlichen Hof in Peking hingegen spielten die Europäer schon sehr viel länger eine – wenn auch obskure – Rolle. Noch bevor die Mandschus in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ihre Qing-Dynastie begründeten, gab es in der chinesischen Hauptstadt bereits eine Niederlassung des Jesuitenordens. Die Kunstliebe des hochgeschätzten Kaisers Qian Long erstreckte sich auch auf repräsentative Werke der westlichen Welt. Er unterhielt im achtzehnten Jahrhundert eine kleine, aber florierende Kolonie europäischer Maler, zu deren bekanntesten Mitgliedern Giuseppe Castiglione zählte. Als Qian Long anfing, seinen Ruhesitz zu planen, war es daher keine Überraschung, daß er Castiglione und dessen chinesische Schützlinge mit einem Teil der künstlerischen Gestaltung beauftragte. Dieses Bauwerk, bekannt als Juanqin Zhai, das Haus des beschwerlichen Fleißes, steht auch heute noch in der Verbotenen Stadt und ist samt seiner merkwürdig westlichen Wandgemälde in den letzten zweihundert Jahren nahezu unberührt geblieben. Ebenfalls gut dokumentiert ist die Tatsache, daß zu Qian Longs Hofstaat Lamas sowie Elemente der tibetischen Kultur gehörten und daß er während seiner langen Regentschaft vielfach darauf hingearbeitet hat, das Gedeihen des Buddhismus und der buddhistischen Künstler zu befördern.
    Im Laufe der Jahrhunderte war der Kaiser nur einer von vielen, die der Faszination der tibetischen Kunst erlegen sind. Auf den ersten Blick mag es sich bei tibetischen thangkas lediglich um vereinfachte, linkische, ja sogar primitive Darstellungen simpler religiöser Themen handeln. Doch auch hier trifft zu, was für die meisten guten Kunstwerke gilt: Je mehr man sich
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