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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Autoren: Robert M. Talmar
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behandelten sie auch so. Darüber hinaus machte sie eine Eigenschaft der Vahatin argwöhnisch: Diese vermochten sich sehr schnell und nahezu lautlos zu bewegen, und oft vernahm man von ihnen nicht mehr als ein leises Rascheln im Gras.
    Noch heute sprechen wir manches Mal von Wichten. Bezeichnenderweise meist von Bösewichtern, also von bösen Wichten, wobei dieser Sprachgebrauch sehr aufschlussreich für den damaligen wie heutigen Blickwinkel der Menschen ist: Nirgendwo ist in diesem Zusammenhang nämlich von guten Wichten die Rede.
    Erhalten hat sich in manchen ländlichen Gegenden allenfalls eine gute Sitte, die schon die alten Vahatin pflegten und die auf die einvernehmliche Gesinnung der Vahits verweist: Sie beschenkten einander gern und häufig. Wenn wir es ihnen gleichtun, dann fügen wir ihnen allesamt großes Unrecht zu, wenn wir diesen verbindenden Brauch heute mit dem sie herabsetzenden Wort »wichteln« bezeichnen; es war eine Sitte, die viel mehr für die Vahits beinhaltete, als es unser bloßes Ein- und wieder Auspacken (von meist unwichtigen Dingen) vermuten lässt.
    Infolge der Auffälligkeit in der Gestalt waren die Vahits gezwungen, sich umso unauffälliger zu verhalten, wollten sie Ärger und Spott aus dem Wege gehen. So entzogen sie sich klugerweise dem Zusammenleben mitden Großen Leuten und wohnten in abgelegenen Gebieten unter sich; eine Gepflogenheit, an die sie sich auch in den Jahren vor der Dreiteiligkeit schon hielten.
    Die Vahatin mieden den Umgang mit den Menschen, gleichwohl sie ihre langbeinigen Verwandten nicht grundlegend ablehnten. Das hing vornehmlich mit ihrer Größe zusammen und den unvermeidlichen Missverständnissen, die sich daraus ergaben, sobald Menschen und Vahatin einander begegneten. Vahits waren alles andere als kräftig, wenn auch ausdauernd; doch dem unbeabsichtigten Tritt eines unaufmerksam dahermarschierenden Menschen setzten sie sich verständlicherweise nur ungern aus.
    Der Name Vahatin kam erst auf, als der gesamte Kontinent Kolryn von jenem fast fünf Jahrzehnte dauernden Bürgerkrieg erschüttert wurde, der mit dem Zerfall Benutcanes begann und mit der sogenannten Dreiteiligkeit endete. Der Begriff kennzeichnete die Aufteilung allen Landes in drei unabhängige Königreiche   – und bildete zugleich den Nullpunkt einer neuen Jahresrechnung. Von nun an wurden die Jahre in den kolrynischen Königreichen Arelian, Revinore und Vindland nach der Dreiteiligkeit (n.d.D.) gezählt.
    Das Kleinwüchsige Volk wohnte zu jener frühen Zeit in einem Landstrich im Südosten Kolryns, rings um den erloschenen Kreisberg Nintobel; einer Halbinsel, deren Gestade der Lauf des Flusses Malm vom Rest des Erdteils trennte. Jene Gegenden boten mit ihren üppigen Weiden und hellen Wäldern den Kleinwüchsigen mehr, als sie zum Leben brauchten. Doch mit der Dreiteiligkeit zogen etliche im Krieg entwurzelte Menschen in heeren Scharen auf der Suche nach neuen Weide- und Siedlungsgründen herbei, denn die Berge, Wälder und Ebenen rings um den Nintobel waren zum rechtmäßigen Grund und Boden des kleinsten der drei Gebiete erklärt worden: Dem Königreich Vindland ward alles Land jenseits des Malm zu eigen gegeben.
    Als die Menschen kamen und Städte und Dörfer errichteten, nahmen sie auf die schon seit langem hier lebenden Kleinwüchsigen wenig Rücksicht. Sie zogen ihre Mauern dort hinauf und rammten ihre Pfähle da hinein, wo es ihnen eben gefiel. Sie legten Straßen an und Häfen, holzten Wälder ab und gruben sich in die Berge, dabei stets über die Wichte lachend, wenn diese sich einmal zu beschweren wagten.
    Im zehnten Jahr nach der Dreiteiligkeit beschlossen die Vahits, dem sich verstärkenden Druck der Einwanderer zu weichen und ihre alten Gefilde auf der Suche nach einer neuen Heimat aufzugeben. So zogen sie, kaum beachtet von den Großen Leuten, mit Sack und Pack und allem, was sie mit sich führen konnten, längs des Flusses Malm in die Berge hinauf, nach Westen und dann nach Nordwesten   – entwurzelt und ohne rechtes Ziel.
    Vier Sippen waren es, die sich auf die Große Wanderung begaben: die Maschen, die Kwynten, die Flaken und die Luiden.
    Zu den Maschen zählten jene, die seit alters her mit Vorliebe tiefer gelegene, teils sogar überschwemmte Gebiete als Wohnort bevorzugten. Ortsnamen wie Muldweiler, Muldwald oder auch Moorreet zeigen die Nähe von Mooren, Sümpfen, Teichen und Vertiefungen an. Die Maschensippe (von »Masch«, d. i. überschwemmte Wiese) lebte vor der
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