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Der verflixte Bahnhofsbau

Der verflixte Bahnhofsbau

Titel: Der verflixte Bahnhofsbau
Autoren: Werner Schrader
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vor sich hin. Die alte morsche Brücke flüstert leise. Sie träumt von neuen Balken und einem festen Geländer.
    Plötzlich dröhnt eine rauhe Stimme laut durch die Nacht. Schritte poltern über die Brücke, und ein verstrubbelter Kopf mit roten Haaren und einer Kartoffelnase erglänzt im Mondlicht. Ein Auge ist mit einem Pflaster verklebt, das andere aber funkelt wie ein Edelstein. Aus dem breiten Mund mit den hohen Pferdezähnen sprudeln Wörter, die sich einen Meter weiter zu einem Lied versammeln, zu einem Lied, das lauter wird, je näher der Mann mit dem rot=blau=gelb=grüngestreiften Hemd der Schulstraße kommt. Das Lied ist ein besonderes Lied. Es jagt den Leuten in Hasenkrug, die noch nicht schlafen, eine Gänsehaut über den Rücken, und zwar den Männern ebenso wie den Frauen, den faulen wie den fleißigen und den blonden wie den braunen.
    Der Mann, der da so schreckerregend singt, ist der Räuber Henner Blau, ein fürchterlicher Mann. Er hat zwar nur ein Auge und nur eine Pistole, aber beide glänzen, wenn das Licht darauffällt.
    Henner Blau wohnt im Wald, irgendwo, keiner weiß genau wo und seit wann. Aber daß im Brakenbusch verborgen und versteckt seine Höhle ist, lernen schon die Schulanfänger bei Herrn Lubesam. Und nun geht er, wie jeden Abend um dieselbe Zeit, durch die Straßen von Hasenkrug. Vor der Einfahrt zur Kirche biegt er nach rechts in die Schulstraße ein, und jetzt können auch die klugen Männer beim dicken Fidi sein Räuberlied hören:
     
Ich bin der Räuber Henner Blau.
Mich kennt ein jedes Kind genau
und fürchtet meine Stärke.
Ein hohler Eichbaum ist mein Haus,
da geh ich täglich ein und aus
und tue Räuberwerke.
 
Ein Nagel ist mein Kleiderschrank,
ein Hauklotz meine Ruhebank,
da kann ich doch wohl lachen.
Mein Bett ist nur aus Heu und Stroh,
darob bin ich besonders froh:
ich brauch es nicht zu machen.
 
Und geht mir mal die Speise aus,
dann schleich ich in die Stadt hinaus
und hole Speck und Schinken.
Auch finde ich im Mondenschein
ein Faß voll Bier und Schnaps und Wein,
die sich gar lieblich trinken.
 
Und kommt der dumme Polizist,
zeig ich ihm, was ein Räuber ist
und ziehe die Pistole.
Dann hebt er gleich die Hände hoch,
und wenn er wegläuft, ruf ich noch:
„Daß dich der Teufel hole!“
     
    Während Henner Blau singt, schließen die Bürger Hasenkrugs schnell die Haustüren ab, drehen den Schlüssel zweimal herum und schieben den Riegel vor. Sie klappen die Fenster zu und unterhalten sich nur noch im Flüsterton. Manche ziehen sich die Bettdecke über die Ohren, einige beten, viele zittern. Der Sohn vom dicken Fidi, der kleine Fidi, schneidet dem Räuber Grimassen durch die Fensterscheibe. Aber zu seinem Glück sieht Henner Blau das nicht.
    Nun ist er am Marktbrunnen angekommen. Er setzt sich auf den Zementsockel und wartet. Dabei nimmt er seine Pistole aus der Tasche und läßt sie im Mondschein blinken und glitzern. Er wartet auf seinen Gegenspieler, seinen Todfeind, den berühmten Stadtpolizisten Tatta Knobel, mit dem er sich jeden Abend um diese Zeit hier am Brunnen zu einem ernsten Kampfe trifft. Manchmal wird er Sieger, manchmal Tatta Knobel. Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Vom Wetter zum Beispiel, von Laune und Stimmung und natürlich davon, wie stark die Phantasie der beiden Kämpfer an diesem Abend ist, denn die brauchen sie zu ihrem Kampfe ganz besonders.
    Während Henner Blau seinen linken Schuh, der keine Sohle mehr hat und ihm darum bis an das Knie hochgerutscht ist, wieder hinunterstreift, ist schon der bärige Gesang von Tatta Knobel zu hören, der in die Stille fällt wie ein Ball in ein ruhiges Wasser. Langsam nähert sich der Sänger, aus dem Großen T durch die Bahnhofstraße kommend, dem Marktbrunnen. Seine Stimme schwillt an. Sie ist nicht ganz so tief wie die des Räubers, aber ebenso heiser und rauh. Zehn Schritte noch, und dann stehen sich die beiden Streiter gegenüber. Nur der Brunnen ist zwischen ihnen, damit sie sich nicht so nah auf den Leib rücken. Tatta Knobel zieht seinen Säbel aus der Scheide und beginnt den Kampf. Breitbeinig steht er da und singt sein Lied noch einmal von vorne:

     
Ich bin der beste Polizist,
der eh und je gewesen ist,
das wissen alle Leute.
Ein Räuber, der mich kommen sieht,
der dreht sich um und läuft und flieht
und wird doch meine Beute.
 
Ihr Bürger, macht die Augen zu
und schlaft und träumt in guter Ruh
und laßt die Sorge gehen!
Solange ich in Hasenkrug
bekämpfe Diebstahl, Lug und
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