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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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Bewegung sprechen. Diese Abweichler sind Einzelakteure und schaffen es nicht, sich zu einem Netz zu verknüpfen. Im März 2010 bewarb sich eine vollverschleierte Frau aus Saudi-Arabien bei einem beliebten Poesiewettbewerb in Abu Dhabi, den man mit »Deutschland sucht den Superstar« sowohl in seiner Popularität als auch im Format vergleichen kann. Als sie vor der Jury, die nur aus Männern bestand, vortrug, lieferte sie eine mutige Anklage gegen die Stellung der Frau in ihrem Land, die als Besitz des Mannes oder als Vieh im Haus gilt. Mit ihrem Plädoyer bewegte sie Millionen überall in der arabischen Welt, die die Sendung live via Satellit verfolgten. Der ägyptische Blogger Wael Abbas riskierte viel und veröffentlichte Videos im Internet, die die täglichen Misshandlungen auf ägyptischen Polizeistationen dokumentieren, und wurde dafür im März 2010 zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein drittes Beispiel bietet die libanesische Dichterin und Journalistin Jumana Haddad, die seit Ende 2008 eine Zeitschrift herausgibt, die mehr als revolutionär ist. Die Illustrierte heißt
Jasad,
Körper, und beschäftigt sich mit allen Themen, die den Körper betreffen: Gesundheit, Kunst, Sexualität. Das Magazin wurde von vielen Seiten als pornographisch beschrieben und scharf attackiert, weil es zum Beispiel offen über Homosexualität und Onanie schreibt. An Kiosken darf das Magazin deshalb nur eingepackt verkauft werden. Sonst wird es hauptsächlich an Abonnenten in allen arabischen Staaten per Post verschickt. Man darf raten, woher die meisten Kunden stammen. Richtig: aus Saudi-Arabien.
    Der große Häretiker in der islamischen Welt aber heißt Facebook. Es ist auch der größte Demokrat. Schon wenige Monate nach der Gründung des sozialen Online-Netzwerks hatte Ägypten nach den USA die meisten Nutzer. Überall in den islamischen Staaten sind viele junge Menschen internetsüchtig. Sie chatten über Religion und Politik, schauen sich Pornos an, hören sich die Musik von Beyoncé, aber auch die Botschaften von Bin Laden an. Auch Fundamentalisten entdeckten das Internet und Facebook. Die Muslimbruderschaft unterhält mittlerweile ihre eigene Wikipedia. Die größten Gruppen auf Facebook gehören religiösen Predigern wie Qaradawi, Amr Khalid, an. Die größte Fangruppe hat selbstverständlich der Prophet Mohamed selbst.
    Das Internet spiegelt die Schizophrenie in der islamischen Gesellschaft wider. Weltweit werden Pornoseiten am meisten in Pakistan, Iran und Ägypten angeklickt. Gleichzeitig boomt die Dschihad-Ideologie auch online. Bei den Nutzern handelt es sich nicht unbedingt um zwei unterschiedliche Gruppen, beide Seiten haben vielmehr oft die gleichen Leser und Betrachter. Nur das Internet machte die Verbreitung von Fatwas, aber auch die Veröffentlichung von Häresien möglich. Ein beliebter Blog im Internet lautet »Vereinigung arabischer Atheisten«. Die Polarisierung nimmt zu. Junge Menschen ringen nach Orientierung.

    Auf den Straßen von Kairo erlebte ich in den letzten drei Jahren zwei Szenen, die mir zeigten, wie ein System sich, zumindest kurzfristig, spontan verändern kann. Im Herbst 2007 ging ich mit einem Freund eine Straße im Zentrum Kairos entlang und wurde Zeuge einer Szene, die sich wohl nur in Ägypten abspielen kann. Es war Freitagabend, und die lange Einkaufsstraße war so mit Menschen überfüllt, dass ich beinahe Platzangst bekam. Die Frage, wie all diese Massen dreimal am Tag etwas zu essen bekommen und wie eine Stadt wie Kairo überhaupt noch funktioniert, faszinierte mich. Nach allen Einschätzungen und Berechnungen sollte diese Stadt längst in sich zusammengebrochen sein. Plötzlich hörte ich mehrere Schreie: »Ashraf, mein Kind, Ashraf!« Eine junge Mutter aus der Provinz rief verzweifelt nach ihrem dreijährigen Sohn, den sie in der Menschenmenge verloren hatte. Sie schrie und schrie, und plötzlich stand die Straße still. Kein Mensch bewegte sich mehr, und jeder fing an, den Namen des Jungen laut zu rufen. Zum ersten Mal fühlte ich mich als Teil der Masse und rief: »Ashraf, Ashraf!« Das Schicksal dieses Kindes schien mir als mein eigenes, als das Schicksal von uns allen zu sein. Bald kam die Polizei, was ungewöhnlich ist, da sie üblicherweise erst eintrifft, wenn sich die Sache geklärt hat oder wenn es zu spät ist. Doch die Polizisten konnten nichts ausrichten und fingen an, mit den Massen nach dem Kind zu rufen. Minuten vergingen, und die Rufe erreichten die Parallelstraße, wo das
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