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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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Thermodynamik eine spontane Systemänderung nicht aus.
    Epikur, der seinen Schülern in Athen Furchtlosigkeit vor den Göttern und vor dem Tode lehren wollte, gab ihnen ein Beispiel aus der Physik, um zu zeigen, wie das Individuum dem Schicksal oder dem geschlossenen System der Gemeinschaft entkommen kann. Die Welt besteht laut dieser Theorie aus unendlich vielen Atomen, die nach den Gesetzen der Physik in die Leere des Raumes fallen. Wenn alle Atome dem Gesetz folgen würden, würden sie einander nie berühren, und die Sinneswelt, die wir kennen, wäre nicht wahrnehmbar. Erst die geringfügigen Abweichungen der Atome von ihrer Bahn machen die Zusammenballung von Atomen möglich, die zur Entstehung der Körper führt. Später übernahm der Philosoph Lukrez die Theorie Epikuros’ und nannte sie
Clinamen
. Wie und warum ein Atom seine Bahn verlässt, bleibt allerdings unerklärlich. Es muss die Geschlossenheit des Systems selbst sein, die diese Abweichungen provoziert. Das Atom kann hier als das Individuum verstanden werden, die Anziehungskraft als die Regel der Gesellschaft oder der natürliche Lauf der Dinge. Egal wie starr ein System ist, die Wahrscheinlichkeit einer Veränderung von innen ist nie auszuschließen, auch wenn diese durch die gewöhnliche Entwicklung der Körper kaum zustande kommen könnte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion mag nur so erklärt werden können.
    Das geschlossene arabisch-islamische System provoziert Abweichler und Andersdenkende zum Sprung. Diese stellen sich gegen die Ordnung, aber nicht immer um eine Veränderung herbeizuführen. Manche tun es aus Trotz, manche sehen ihre Abweichung als Mission, andere wissen gar nicht, dass sie Abweichler sind. Es mangelt jedenfalls nicht an Individuen in der islamischen Welt, die große unerwartete Sprünge wagen und das Gleichgewicht des Systems, zumindest kurzfristig, stören. Häretiker wie Ibn Warraq und Ayan Hirsi Ali und Kritiker wie Necla Kelek und Wafaa Sultan kann man als
Clinamen
sehen. Der schmerzliche Druck, den ihr System auf sie ausübte, forderte sie zum Absprung heraus. Die Tatsache, dass sie gegen das System wettern, ändert aber nichts daran, dass sie ein Teil von ihm waren und vielleicht immer noch sind.
    In einem Punkt sind diese Abweichler mit den russischen Dissidenten während der Sowjetunion wie Solschenizyn, Sinowjew und Sacharow vergleichbar. Sie hatten nicht nur den Mut, aus dem System der Unterdrückung auszubrechen, sondern auch der Welt die Schandtaten dieses Systems vorzuführen. Mit seinem »Archipel Gulag«, der von den Greueltaten des kommunistischen Regimes in den Arbeitslagern berichtete, entzauberte Solschenizyn die Sowjetunion in den Augen vieler europäischer Linker, die im Realsozialismus immer noch eine Utopie sahen. Auch Alexander Sinowjew ärgerte das System durch seine Kritik am Stalinismus und wurde 1978 ausgebürgert. Doch im Westen schrieb er nicht nur über die physische Gewalt des Systems, sondern auch über die positiven Seiten des Kommunismus, die ihn am Leben halten. Solschenizyn war für ihn ein Idealist, die meisten Menschen in der Sowjetunion seien dagegen Alltagsrealisten, die nicht mehr als Stabilität und Arbeit wollten. Die Menschen der Sowjetunion seien deshalb keine Opfer des Kommunismus, sondern Opfer der eigenen Gleichgültigkeit gewesen, schrieb er.
    Doch in einem unterscheiden sich die muslimischen oder ex-muslimischen Dissidenten von den russischen Dissidenten deutlich. Die russischen Dissidenten brachten das System in Verlegenheit und machten es nervös. Ihre Schriften erreichten nicht nur den westlichen Intellektuellen, sondern auch die Menschen in allen Städten der Sowjetunion und desillusionierten auch viele im Inneren. Während Solschenizyn, Sacharow und Sinowjew sowohl zum Westen als auch zu ihrer Bevölkerung sprachen, sprechen Ibn Warraq, Ali und Kelek fast ausschließlich zum Westen und veröffentlichen ihre Bücher nur in europäischen Sprachen. Die Debatten, die sie anstoßen, erreichen deshalb kaum die Menschen, die sie am nötigsten brauchen, nämlich die Muslime in den islamischen Staaten selbst. Während diese Dissidenten im Westen als prominent gelten, kennt sie kaum jemand in der islamischen Welt.
    In der islamischen Welt selbst gibt es auch zahlreiche spontane Abweichler. Es bewegt sich einiges, viele Tabus werden in der Literatur gebrochen, viele Journalisten nehmen sich die Freiheit, trotz Gefahr, die Systeme zu kritisieren. Aber man kann noch nicht von einer
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