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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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Stammesbewusstsein, der religiösen Herrschaftstreue, verlogener Sexualmoral und ineffektiver Bildung, die nicht den Verstand stimuliert, sondern veraltete Denkstrukturen zementiert. Die sogenannten Reformer begnügen sich aber oft damit, diese Kette lediglich mit ihrer Lieblingsfarbe anzustreichen, und nennen dies dann Veränderung. Sie schmieren Salbe auf die aus Krebs entstandenen äußerlichen Entzündungen und trauen sich nicht an den Tumor heran – und machen um die wichtigsten Fragen einen großen Bogen. Die Ärzte, die die Medizin verschreiben, sind oft die Krankheitserreger selbst.
    Deshalb halte ich die Versöhnung des Islam mit dem Atheismus für die letzte Chance. Es ist Zeit für Häretiker, die den Koran neutralisieren und eine neue Geisteshaltung einführen müssen. Damit meine ich weder einen Aufruf zum Glaubensverlust noch eine Aufforderung, gegen den Koran oder den Propheten zu polemisieren. Wir müssen weder pro noch contra Koran sein, aber wir können einen Deal abschließen: Es ist unfair, Mohamed und den Koran aus der Sicht des einundzwanzigsten Jahrhunderts moralisch zu beurteilen. Aus der gleichen Logik heraus ist es auch unfair, dass wir unseren Alltag im einundzwanzigsten Jahrhundert von den moralischen Vorstellungen des siebten Jahrhunderts beeinflussen lassen. Mit Versöhnung mit dem Atheismus meine ich, dass beides, Glaube und Unglaube, friedlich nebeneinander bestehen können muss, ohne einander auszuschließen. Vor der Gründung Israels sagte Ben Gurion: »Wir werden einen jüdischen Staat haben, erst wenn wir jüdische Polizisten und jüdische Prostituierte haben.« Was den Islam betrifft, werden wir eine muslimische Zivilgesellschaft erst haben, wenn wir muslimische Atheisten haben, die unbehelligt auf der Straße laufen und ihre Gedanken frei ausdrücken können. Heute verfluchen wir unsere Häretiker, morgen werden wir ihnen dankbar sein.
    Den ersten Schritt im Prozess der Veränderung nenne ich nicht »Reform«, sondern eine »geregelte Insolvenz«. Erst wenn die islamische Kultur Konkurs anmeldet und erkennt, warum sie pleitegegangen ist, kann sie vielleicht einen neuen Anfang wagen. Insolvenz bedeutet in diesem Zusammenhang für mich, dass die islamische Kultur sich von vielen schweren Koffern trennen muss, sollte sie den Weg in die Zukunft beschreiten wollen. Sie muss sich von vielen Bildern verabschieden: Gottesbilder, Frauenbilder, Weltbilder, Feindbilder und Vorbilder. Die Geschlechter-Apartheid hemmt die Kreativität und schaltet die schöpferische Kraft der Hälfte der Gesellschaft aus und muss deshalb beendet werden. Feindbilder haben die Opferrolle bei Muslimen zementiert und sie immer daran gehindert, die eigenen Versäumnisse zu erkennen und nach Lösungen dafür zu suchen. Die Entwaffnung der eigenen Geschichte und die Einführung eines neuen Geschichtsbewusstseins, basierend auf Verstehen statt Selbstverherrlichung, in das Bildungssystem ist ein Muss. Eine Trennung von Religion, Stammesbewusstsein und politischer Macht muss erfolgen, um eine moderne Staatsform zu erreichen. Man mag fragen, was von der islamischen Kultur danach übrig bleibt außer Trümmern. Das ist wohl richtig, aber auch Trümmer können eine positive Funktion haben, wie der Olympiaberg von München zeigt.

    Nichts hasste ich als Schüler in einem ägyptischen Gymnasium mehr als den Physikunterricht. Aus meiner damaligen Sicht handelte es sich immer um sinnlose theoretische Formeln über Energie, Thermodynamik und Atombewegungen, die kein Mensch braucht. Wir durften nie das, was wir dort lernten, durch Experimente in die Tat umsetzen. Aber Physikexamen konnte ich trotzdem immer mit Bravour bestehen, denn ich ging mit der Physik um wie mit dem Koran: auswendig lernen, ohne es zu verstehen. Doch bei der Vorbereitung dieses Buches merkte ich, dass ich aus der Geschichte, Philosophie und Soziologie keine Hoffnung für die Zukunft der islamischen Welt schöpfen kann, weshalb ich einen Exkurs in die Welt der Physik wage, doch am Ende werde ich wieder bei der Philosophie landen.
    In der Thermodynamik gibt es den zweiten Hauptsatz der Entropie (Wärmelehre). Dieser geht davon aus, dass mechanische Energie in Wärme, umgekehrt aber niemals Wärme vollständig in mechanische Arbeit umgewandelt werden kann. Mit meinen bescheidenen Physikkenntnissen konnte ich verstehen, dass ungenutzte Energien zwar nicht verlorengehen, dennoch in Unordnung und Chaos enden können. Allerdings schließen die Gesetze der
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