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Der Unheimliche Weg

Der Unheimliche Weg

Titel: Der Unheimliche Weg
Autoren: Agatha Christie
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schon lange nicht mehr Urlaub genommen, sagte er zu sich selbst, ich werde noch krank in diesem Bau. Ich glaube, ich muss ein wenig verreisen…

3
     
    » F lug 108 nach Paris. Air France. Hier entlang bitte!«
    Die Fluggäste in der Wartehalle des Flughafens von Heathrow standen auf. Sylvia Craven ergriff ihren kleinen Handkoffer aus Eidechsenleder und ging mit den übrigen hinaus. Es blies ein kalter Wind. Sylvia fröstelte und hüllte sich fester in ihren Pelz. Sie folgte den anderen zu dem wartenden Flugzeug. Ihre Flucht begann, die Flucht vor dem grauen Himmel, vor der Kälte, vor dem elenden Dasein, das sie zuletzt geführt hatte. Und am Ende ihrer Flucht warteten blauer Himmel, Sonne, ein neues Leben. Zum ersten Mal seit Monaten wich der Druck von ihrer Seele. Und als sie sich auf ihren Sitz niedergelassen hatte, fühlte sie sich schon beinahe glücklich.
    Das Flugzeug rollte über die Startbahn, wurde immer schneller, hob ab und stieg höher und höher. Sylvia schloss die Augen und lehnte sich zurück. Nur fort, nur fort! Fort von Norbert, der sie verraten hatte, fort von Brendas kleinem Grab. Ein tiefer Seufzer stahl sich über ihre Lippen und sie schlief ein…
     
    Sie erwachte erst, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. Wir sind in Paris, dachte sie, richtete sich auf und griff nach ihren Sachen. Aber es war noch nicht Paris. Man musste des dichten Nebels wegen in Beauvais landen. Die Fluggäste warteten stundenlang in einer Baracke, bevor sie endlich in verschiedene Omnibusse verfrachtet und nach Paris gefahren wurden; erst lange nach Einbruch der Dunkelheit kamen sie an, und Sylvia fiel todmüde in ihr Hotelbett.
    Das Flugzeug nach Casablanca sollte am folgenden Morgen um 10 Uhr 30 von Orly abfliegen. Aber als man in Orly ankam, befand sich dort alles in größter Verwirrung. In allen Teilen Europas hatte es Terminverschiebungen gegeben, und die flugplanmäßigen Zeiten konnten nicht eingehalten werden. Sylvia erfuhr, dass sie ein Flugzeug nach Dakar nehmen müsse, das ausnahmsweise auch in Casablanca landen würde. Das bedeutete einen Zeitverlust von drei Stunden.
    Und als Sylvia endlich in Casablanca in den Sonnenschein hinaustrat, sagte der Gepäckträger zu ihr:
    »Sie haben Glück gehabt, Madame, dass Sie nicht mit der planmäßigen Maschine einen Tag früher nach Casablanca geflogen sind.«
    »Warum denn?«, fragte Sylvia erstaunt.
    Der Mann dämpfte die Stimme.
    »Ein Unglück! Das Flugzeug ist kurz vor der Landung abgestürzt. Der Pilot, der Navigator und fast alle Passagiere sind tot. Nur wenige Menschen konnte man retten. Sie liegen schwer verletzt im Krankenhaus.«
    Sylvias erstes Gefühl war das eines blinden Zorns. Warum, ach warum hatte sie nicht in diesem Flugzeug gesessen? Dann wäre alles vorbei. Kein Kummer mehr, alle Schmerzen ausgestanden. Aber die Leute in diesem Flugzeug hatten vielleicht gern gelebt. Und sie…?
    Sie passierte den Zoll und fuhr durch den leuchtenden Sommerabend in ihr Hotel. Der klare Horizont – das goldene Licht – alles war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie war am Ziel, hatte das düstere, neblige London hinter sich gelassen und mit ihm alle ihre Sorgen. Hier war alles voller Leben, Farbe und Sonnenschein. Sie durchquerte ihr Zimmer, öffnete die Läden und setzte sich erschöpft aufs Bett. Sie war am Ende ihrer atemlosen Flucht.
    Und nun, im ersten Augenblick der Ruhe und des Alleinseins, fühlte sie mit plötzlichem Schreck, dass diese Flucht vergebens gewesen war, denn – sie selbst hatte sich nicht verändert. Den Schmerzen und Enttäuschungen ihrer verratenen Liebe und der Erinnerung an ihr totes Kind hatte sie nicht entrinnen können. Sie hatte ihre schwere Krankheit überwunden um Brendas willen; aber dann war Brenda unter qualvollen Schmerzen gestorben, und ihr blieb nichts mehr – ein Leben ohne Sinn und Ziel. Ihr blieb nur noch der letzte Ausweg. Jene Schlaftabletten, die ihr der Arzt in London verweigert hatte, sie musste sie hier auftreiben. Entschlossen sprang sie auf.
    Doch so einfach, wie sie gedacht hatte, war auch hier in Casablanca die Sache nicht. Der Apotheker gab ihr nur eine kleine Dosis und verlangte ein ärztliches Rezept, als sie mehr haben wollte. Sie musste in vier Apotheken gehen, bevor sie die nötige Menge beisammen hatte. Und jedes Mal, wenn sie eine Apotheke verließ, stieß sie mit einem hochgewachsenen, etwas feierlich wirkenden jungen Mann zusammen, der sich jedes Mal höflich in englischer Sprache
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