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Der Unheimliche Weg

Der Unheimliche Weg

Titel: Der Unheimliche Weg
Autoren: Agatha Christie
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begann sie mühsam. In diesem Augenblick trat der Arzt ein.
    »Sie sind im Krankenhaus, Madame«, sagte er, »Ihr Flugzeug ist verunglückt. Befindet sich jemand in Casablanca, den Sie zu sehen wünschen, Madame? Können wir etwas für Sie tun?«
    »Nein« – ein gebrochenes Flüstern. Sylvia beugte sich über die Sterbende und sagte langsam und deutlich:
    »Ich komme aus England – kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
    »Nein – nichts – nichts – außer – «
    »Ja?«
    »Nichts.«
    Sylvia wandte sich fragend an Jessop. Er trat ans Bett. Wieder öffnete Olivia mühsam die Augen, und diesmal trat ein Schimmer des Erkennens in ihren Blick.
    »Ich kenne Sie«, murmelte sie mühsam.
    »Ja, Mrs Betterton, wir kennen uns. Wollen Sie mir nicht alles über Ihren Gatten sagen?«
    Aber Olivia schwieg und schloss wieder die Augen. Jessop wandte sich zögernd um und verließ das Zimmer.
    Der Doktor sagte sehr leise zu Sylvia: »C’est la fin!«
    Doch noch einmal öffnete die Sterbende die Augen – sie blieben auf Sylvia haften, die nun die weißen kalten Hände Olivias in die ihren nahm. Der Arzt ging auf Zehenspitzen hinaus. Die beiden Frauen waren allein.
    Mühsam begann Olivia wieder zu sprechen: »Sagen Sie mir – sagen Sie mir bitte – «
    Sylvia erriet, was sie fragen wollte und beugte sich über die hilflose Gestalt:
    »Ja«, sagte sie leise, aber deutlich, »Sie werden vielleicht sterben. Das wollten Sie doch wissen, nicht wahr? Hören Sie mir gut zu: Ich werde Ihren Mann suchen. Soll ich ihm eine Botschaft von Ihnen überbringen, wenn ich ihn finde?«
    »Sagen Sie ihm – sagen Sie ihm – Boris – gefährlich – «
    »Können Sie mir sagen, wie ich zu ihm komme?«
    Aber Olivia wiederholte nur:
    »Boris – gefährlich – kann’s nicht glauben – will nicht – aber wenn’s wahr ist – dann – «In die Augen der Sterbenden trat ein gehetzter Ausdruck – »Acht geben.«
    Schließlich noch ein schwaches Murmeln: »Schnee, schöner Schnee…«, ein letzter rasselnder Atemzug, und Olivia Betterton war tot.
     
    Die folgenden Wochen brachten für Sylvia eine Reihe mühseliger und außerordentlich anstrengender Übungen. Sie hatte ihr eigenes Selbst völlig abzustreifen und sich ganz in Olivia Bettertons Gestalt und Wesen einzuleben. Sie musste lernen, sich zu bewegen wie jene, sich ihre Art zu sprechen aneignen, sich auf ihre Gewohnheiten und Liebhabereien einstellen. Oft verzweifelte sie am Erfolg ihrer Bemühungen; aber Jessop, ihr Lehrmeister, wusste sie immer wieder anzuspornen und pries ihre rasche Auffassungsgabe und ihr gutes Gedächtnis.
    Die Passbeschreibung Olivias entsprach fast der ihrigen; die Passbilder jedoch glichen sich recht wenig. Olivias Gesicht war zwar hübsch, aber ziemlich gewöhnlich und uninteressant. Ganz anders dagegen Sylvias fein geschnittene und intelligente Züge, die einen Bildhauer begeistert hätten. Aber Jessop beruhigte sie auch in diesem Punkt.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind eine gelehrige Schülerin.«
    Eines Tages eröffnete er ihr, dass man auch sie unter Beobachtung stellen müsse. Sonst würde die gegnerische Seite, die ohne Zweifel auf Olivia Betterton wartete, misstrauisch werden. Aber er verriet ihr nicht, von wem und auf welche Weise sie beobachtet werden würde.
    »Es ist besser, Sie wissen nichts – dann können Sie auch nichts verraten. Bitte, seien Sie nicht gekränkt, es braucht gar nicht mit Worten geschehen. Aber sind Sie überzeugt, eine so gute Schauspielerin oder eine so gute – Lügnerin zu sein, dass Sie sich nicht mit der kleinsten Geste, nicht mit einem Wimpernzucken verraten werden?«
    »Und was wird geschehen, wenn ich am Ende der Reise angelangt bin?«, fragte Sylvia.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Nun, wenn ich zum ersten Mal Thomas Betterton von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe.«
    Jessop nickte grimmig.
    »Ja, das wird der gefährlichste Augenblick des ganzen Unternehmens sein. Sie stehen zwar überall unter unserem Schutz, aber Sie werden sich erinnern, dass ich Ihnen gleich gesagt habe, es sei sehr fraglich, ob Sie mit dem Leben davonkommen würden.«
    »Warum haben Sie sich eigentlich nie danach erkundigt, was Mrs Betterton vor Ihrem Tod zu mir gesagt hat?«
    »Ich dachte, Sie hätten Bedenken gehabt, sie zu fragen.«
    »Ja, aber ich fragte sie dann doch, und ich will Ihnen sagen, was sie antwortete: ›Sagen Sie ihm (Betterton) – er soll vorsichtig sein – Boris – gefährlich –‹«
    »Boris«, wiederholte Jessop
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