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Der unersättliche Spinnenmann

Der unersättliche Spinnenmann

Titel: Der unersättliche Spinnenmann
Autoren: Pedro Juan Gutierrez
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liebsten die Kamera auf den Boden geknallt, ein Floß bestiegen hätte und abgehauen wäre. Ich hatte die Schnauze voll von allem. Sogar von mir selbst, weil ich diese Fotos gemacht hatte.«
    »Du hast ja auch in diesem heruntergekommenen Wohnblock gewohnt, mitten im Chaos.«
    »Und dann der Hunger und das Elend, das meine zwei Kinder und meine Frau ertragen mussten. Erinnerst du dich, dass ich damals wie ein Skelett aussah? Wenn ich mich noch mal an diese Fotos mache, drehe ich durch oder gehe doch noch aufs Floß oder bring mich um, keine Ahnung.«
    »Heb aber wenigstens die Negative auf, irgendwann einmal vielleicht …«
    »Nein, nein. Vergiss es. Ich ändere meine Meinung nicht. Hab schon dran gedacht, die Negative zu verbrennen, und fertig.«
    »Mach das nicht, Kumpel.«
    »Ich bin nicht zum Märtyrer geboren, Kumpel. Es ist besser, das alles zu vergessen und keinem auf die Nerven zu gehen und Probleme zu bekommen. Sieh mal, jetzt mach ich ein paar Fotos vom Sonnenuntergang über Havanna, und morgen zahlt man mir zweihundert Eier cash für ein einziges dieser Fotos. Man muss zu leben verstehen, Kumpel!«
    »Na gut, wenn du meinst.«
    »Ich will jetzt einfach nur gut leben. Für mich gibt’s keine Krise und keinen Hunger mehr. Wer jetzt noch in der Krise und im Elend steckt, soll zum Teufel gehen oder sich die Pulsadern aufschneiden. Seit zwei Jahren bin ich nicht mal mehr in der Altstadt von Havanna gewesen. Keine Lust mehr auf das ganze Elend.«
    »Willst du was trinken, Gaspar?«
    »Sei nicht sauer auf mich, Kumpel.«
    »Ich bin nicht sauer. Du und ich, wir sind doch seit zwanzig Jahren Freunde.«
    »Wann soll ich’s denn sonst machen? Erst im nächsten Leben? Man lebt ja nur einmal!«
    »Okay, lass gut sein. Trink erst mal ‘nen Schluck Rum.«
    »Nein, nein, nicht bei der Arbeit. Bloß keinen Rum.«
    »Du bist ja wirklich ein richtiger Profi geworden, Gasparcito!«
    »Du ruinierst dir noch die Leber mit diesem Scheißrum. Furchtbares Zeug.«
    Die Sonne versank im Meer in allen Schattierungen von Orange, Grau, Rosa. Ein echtes Schauspiel. Gaspar machte eine Reihe Aufnahmen und verabschiedete sich.
    Julia fing an, wie eine Verrückte die Wohnung zu putzen, goss eimerweise Wasser aus, wischte, fegte. Sie wirkte wie eine völlig überdrehte Maschine. Wenn sie so am Rande der Hysterie sauber macht, lässt man sie besser in Ruhe. Das macht sie, um Druck abzulassen. Sie hatte alles gehört, was Gaspar mir erzählte. Ihre bissigen Kommentare will ich nicht hören. Ich stehe auf der Dachterrasse, schaue auf die Stadt und das Meer und in den Abend hinaus, trinke gemächlich und versuche abzuschalten. Julia hört auf zu putzen und kommt zu mir:
    »Ich will dir was sagen, denn wenn ich den Mund halte, platze ich.«
    »Ich weiß, was du mir sagen willst.«
    »Mach es so wie Gaspar.«
    »Julia, bitte.«
    »Ich sag’s dir zu deinem eigenen Nutzen. Kümmer dich nur um deine Malerei und hör auf, Bücher zu schreiben.«
    »Verdammt noch mal, Julia! Mach sauber und lass mich in Ruhe!«
    »Das sag ich dir, weil ich dich liebe. Ob du es glaubst oder nicht!«
    Ich ging hinein und legte »Red House« von Jimi Hendrix auf, volle Lautstärke. Dann füllte ich das Glas bis zum Rand mit Rum, ohne Eis, und ging wieder hinaus auf die Dachterrasse. Und schaute in den Abend und aufs Meer und in den Abend.

 
     
     
     
All das liegt weit zurück
     
     
    Julia ist zu ihrer Mutter gezogen. Wir hatten einen ziemlich schlimmen Krach, da hat sie ein paar Klamotten gepackt und ist abgehauen. Wir haben nur wenig gesagt, aber es waren harte Worte. Wir haben uns beleidigt. Seither ist eine Woche vergangen, und sie ruft nicht an. Ihre Mutter lebt auf dem Land und hat kein Telefon. Ich glaube, das ist jetzt wirklich das Ende. Immerhin bin ich entspannt, aber gleichzeitig fühle ich mich auch ein bisschen depressiv. Das Gefühl habe ich immer, wenn ich plötzlich allein bin. Vielleicht hat mir meine Mutter als kleines Kind angedroht: »Wenn du nicht zu heulen aufhörst, gehe ich weg und lass dich im Dunkeln allein, und dann kommt der Butzemann und frisst dich.« Und diese Angst ist dann in meinem Unterbewusstsein geblieben, lauernd wie ein Kampfhund. Früher habe ich gegen dieses Gefühl angekämpft, weil ich ein unbesiegbarer Macho sein wollte. Doch mit einer besitzergreifenden, autoritären Mutter und einem charakterschwachen Vater, der lieber abhaut, ist es schwer, Superman zu sein. Da ist es besser, das Terrain zu studieren und
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