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Der unbeugsame Papagei

Der unbeugsame Papagei

Titel: Der unbeugsame Papagei
Autoren: Andrej Kurkow
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Iljitsch Lenin nicht gern Geschenke bekam. Interessiert erfuhr der Volkskontrolleur, dass der Führer jeden Tag mit der Post Dutzende, bisweilen auch Hunderte von Pakete mit Geschenken von Arbeitern, Bauern und Soldaten erhielt.
    Der Volkskontrolleur vertiefte sich ins Lesen und beachtete den Lärm und das Scheppern des Metalls um ihn her nicht weiter.
    Die Erzählung handelte davon, wie Lenin eines Tages von weißrussischen Webern einen Brief bekam, in dem diese ankündigten, dass sie dem Führer ein Stück Stoff für einen Anzug schicken wollten. Lenin las den Brief, rief Bontsch-Brujewitsch und sagte zu ihm, dass es in Russland noch immer alte, schädliche Traditionen wie jene gebe, nach der die Bauern in vorrevolutionärer Zeit Gutsbesitzern und Statthaltern immer Geschenke schickten. Und um diese Traditionen zu bekämpfen, beauftragte Lenin Bontsch-Brujewitsch, zu Papier und Stift zu greifen und nach seinem Diktat an die weißrussischen Weber einen Brief zu schreiben. In dem Brief bedankte Lenin sich bei den Webern für ihre freundliche Aufmerksamkeit, bat sie jedoch, keinen Stoff zu schicken und zugleich allen Webern sowie auch den übrigen Arbeitern und Bewohnern dieses weißrussischen Städtchens weiterzusagen, dass er, Lenin, Geschenke überhaupt nicht mochte. Bontsch-Brujewitsch schickte den Brief ab. Die weißrussischen Weber erhielten ihn, lasen ihn alle gemeinsam und wiegten die Köpfe, ja, sie hatten wohl verstanden. Sie gingen hin, wie Lenin im Brief gebeten hatte, und sagten allen seine „heimliche Bitte“ weiter – man solle ihm keine Geschenke schicken. Zu der Zeit tauchte im Städtchen zufällig ein Soldat auf, ein Einheimischer, der von seiner Einheit hinter dem Ural auf Urlaub zu seiner Familie anreiste. Auch er vernahm die heimliche Bitte des Führers, und als er zu seiner Einheit zurückkehrte, sagte er sie allen Soldaten und Offizieren weiter, was sehr passend kam, weil diese sich gerade anschickten, ein Paket an den Führer zu organisieren. Sie begriffen, dass der Führer ihr Paket nicht brauchte, und vergaßen die Sache, nicht aber die Bitte des Führers; und bald trugen sie sie in ihre heimatlichen Städte und Dörfer weiter, in die sie zurück kehrten, trugen sie in die entlegensten Winkel Russlands. So erfuhr nach und nach fast das ganze Land von der heimlichen Leninschen Bitte. Mancherorts hatte man allerdings auch noch gar nichts von ihr gehört oder es gerade eben erst erfahren, vielleicht würde auch morgen erst jemand dort davon erzählen. Anders war es mit dem Ausland. Da kam die Bitte nicht hin, die Internationalisten hörten nichts von ihr, und so trafen bis zum heutigen Tag Pakete und Briefe, ganze Waggonladungen aus dem Ausland für den Führer ein. Bücher, Essen, Kleidung – alles schickten ihm die Kampfgenossen. Und Lenin schrieb ihnen nichts darüber, denn im Ausland herrschten die dortigen Gesetze und Traditionen, und man musste sie achten. Ganz wie man sagt: Ein fremdes Kloster betrittst du nicht mit deiner eigenen Regel!
    Dobrynin las die Erzählung zu Ende, holte tief Luft und dachte nach. Interessante und unerwartete Gedanken be­gannen in seinem Kopf zu kreisen. ‚Ob Genosse Twerin wohl Geschenke mag?‘, überlegte der Volkskontrolleur. Und gleich darauf wandte er sich im Geist sich selbst zu und erkannte, dass er selbst sehr gern Geschenke bekam, dass aber leider niemand davon wusste. Hierauf fuhr Dobrynin mit der Hand in seinen Rucksack, um den Revolver zu betrachten, den Genosse Twerin ihm geschenkt hatte. Anschließend tastete er nach den Keksen, sein Geschenk von Genosse Woltschanow für die Reise, und dann spürte er noch etwas Flaches, Festes in dem Sack. Er zog es heraus, sah nach, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er hielt den Pass des Pferdes Grigorij in den Händen. Da wurde sein Herz schwer und die Erinnerungen strömten nur so auf ihn ein. Denn auch das Pferd war ja ein Geschenk gewesen.
    In Dobrynins Kopf verwirrte sich alles, die Gedanken stockten, als seine Gefühle aufwallten. Mit zitternder Hand schob der Volkskontrolleur das Passbüchlein seines Pferdes, das im Norden zu Tode gekommen war, in die Innentasche seiner grünen Uniformjacke.
    Er blickte aus dem runden Fenster und versuchte sich von seinem Kummer abzulenken. Unten grünte noch immer die Erde, von Straßen und Schienen zerteilt und wie in Stücke geschnitten. Ohne Eile fuhr ein Güterzug seines Weges, der Schornstein der Lokomotive qualmte. Von der anderen Seite her kroch ihnen
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