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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg
Autoren: Gerbrand Bakker
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konnte, wenn der Wind aus einer ganz bestimmten Richtung kam; Frühlingslandluft. Der Polizist drehte sich um und schaute in eine schmale, hohlwegartige Straße, die leicht anstieg, in der Mitte wuchsen Grasbüschel aus dem Asphalt. Auf der Weide neben der Straße grasten unglaublich viele Schafe. Es war feucht. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte Viertel vor eins, wovon der Mann eine Stunde abzog. Eine seltsame Nervosität hatte ihn erfaßt. Zweiter Weihnachtstag in Wales, vielleicht sah er in einer Viertelstunde seine Frau wieder.
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    Immer wieder rief er sich den Gipfel in Erinnerung. Sah sich oben stehen, sah die Atemwölkchen vor seinem Mund, den Horseshoe , die Irische See, die kleinen Seen, das sanfte Gefälle in Richtung Llanberis, so sanft, als hätte der Berg gewußt, daß man dort einmal eine Bahnstrecke würde bauen wollen. Eine dünne Schneedecke. Schade nur, daß man an solchen Orten nie allein war. Die neue Bergstation, Hafod Eryri , war geschlossen, Hartfaserplatten schützten die großen Fenster, an der Rückseite hatte sich eine Schneewehe gebildet. Es waren gar nicht so viele Leute oben, aber fast alle sprachen in ihre Handys, mußten irgendwem erzählen, daß sie den Gipfel erreicht hatten. Als er im Lauftempo wieder zu der Stelle kam, an der er sie zurückgelassen hatte, und sie dort nicht antraf, hatte er über den Rand geschaut, in die Tiefe, bevor er weiterrannte.
    Aber jetzt sitzt er doch tatsächlich im Keller eines alten Schweinestalls. Ohne Handy; selbst wenn er jemandem sagen wollte, daß er hier unter der Erde festsitzt, könnte er es nicht. Aufrecht stehen ist unmöglich. Sie hat Kissen auf den Boden gelegt, Teppiche und Decken. Erst nachdem sie das Licht ausgeschaltet hat, zündet er die Kerze an, mit einem Streichholz aus einer Schachtel, die neben den Flaschen liegt. Nur eine von zwei Kerzen, die sie in die Hälse von Weinflaschen gesteckt hat. Richtig dunkel wird es sowieso nicht, im Haus brennen Lampen, an mehreren Stellen fällt Licht auf den Rasen, er kann es durch das niedrige, lange Fenster sehen. In einer Plastikkiste liegen Brot und abgepackte Kuchen, Butter, ein paar Bananen, ein Messer, kaltes Lammfleisch, geschnitten, ein Stück Käse. Drei Flaschen Rotwein mit Schraubverschluß, eine Flasche Weißwein, sieben Flaschen Wasser, Chips. Ein Glas und ein Teller. Nach einem zweiten Weihnachtsgeschenk hat er gar nicht erst gesucht. Er glaubt zu hören, daß sie etwas mit der Schubkarre transportiert, Schritte auf dem Schiefersplitt, das letzte, das er hört, ist klassische Musik, das Radio muß auf volle Lautstärke gestellt sein, die Haustür oder das Küchenfenster offen, etwas später geschlossen. Oder das Radio wieder aus. Er versteht das Ganze nicht, obwohl er auch nicht wirklich überrascht ist. Trotzdem stemmt er sich einmal kräftig gegen die Klappe, fühlt Staub auf seinen Kopf rieseln. Flucht leise. » Sguthan «, sagt er, ohne Wut, und: » Iesu grist .« Er ißt und trinkt, aber nicht zuviel. Es könnte ja durchaus eine Woche dauern. Und daß es dann sein Vater sein wird, der ihn befreit, dagegen kann er auch nichts machen. Er zieht die Bergschuhe und die Jacke aus und nimmt endlich die Mütze ab. Dann legt er sich auf die Kissen und zieht die Decken und Teppiche über sich. Bläst die Kerze aus. Ihm ist nicht kalt. Im Haus brennt immer noch Licht. Er sieht sich auf dem Gipfel des Yr Wyddfa stehen, er atmet die scharfe Bergluft, blinzelt in die Schneesonne.
    Vögel singen am nächsten Morgen. Weil er hier nichts sieht – na gut, Balken und Bretter –, könnte er denken, es wäre Frühling. Im Lauf der Nacht ist doch die Kälte vom Boden her in seine Kleider gekrochen. Er setzt sich aufrecht hin, ißt ein Stück Brot mit Käse, trinkt etwas Wasser. Und wartet. Vielleicht hab ich sie geschwängert, denkt er. Er steht auf, um durch das niedrige Fenster zu schauen, das Gras ist feucht, und als er etwas später noch einmal zum Fenster geht, sieht er, daß die Sonne ein Stück gewandert ist. Erst jetzt fällt ihm auf, daß sie die drei blühenden Pflänzchen von der Küchenfensterbank auf den Rand des Kellerfensters gestellt hat. Als er den Finger in eins der Töpfchen steckt, fühlt er feuchte Erde.
    Er weiß im Grunde immer noch nicht, warum er auf dem Rasen stehengeblieben war, wie ein Hirsch, der in den Lichtbündeln von Scheinwerfern gefangen ist – Scheinwerfern eines schwarzen Pick-ups, der neben dem Haus geparkt war –, obwohl er einfach hätte weggehen
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