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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg
Autoren: Gerbrand Bakker
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entfernt.
3
    Der Raum um das Haus. Einmal war sie zum Einkaufen nach Bangor gefahren, danach entschied sie sich für Caernarfon, das näher lag. Bangor war eigentlich nicht groß, trotzdem empfand sie den Ort als viel zu laut und voll. In der kleinen Stadt gab es eine Universität, also Studenten. Sie konnte keine Studenten mehr sehen, vor allem die ganz jungen nicht. Im noch kleineren Caernarfon waren viele Geschäfte geschlossen, auf den Schaufenstern stand in weißer Farbe FOR SALE . Besitzer noch geöffneter Läden besuchten sich gegenseitig, um sich kaffeetrinkend und rauchend Mut zu machen. Die Burg stand so da, wie ein Freibad im Januar daliegen kann. Im großen Tesco-Markt war viel Platz, und er hatte bis neun Uhr abends geöffnet. Sie konnte sich schlecht an die schmalen, hohlwegartigen Straßen gewöhnen, bremste vor jeder Kurve, hatte dauernd Angst, auf der falschen Seite zu fahren.
    Sie schlief im kleineren Schlafzimmer, die Matratze lag auf dem Boden. Wie das große Schlafzimmer besaß es einen offenen Kamin, aber sie hatte noch kein einziges Mal Feuer darin gemacht. Eigentlich hätte sie ihn anheizen müssen, wenigstens um festzustellen, ob er zog. Das Haus war längst nicht so feucht, wie sie erwartet hatte. Der schönste Raum im Obergeschoß war der Flur; ein L-förmiges Geländer um das Treppenloch, abgenutzte Dielen und eine breite Fensterbank. Auf dieser Fensterbank saß sie manchmal, abends, und schaute zwischen den Ranken eines alten Kletterstrauchs hindurch ins Dunkel. Dann sah sie, daß sie nicht ganz allein war, irgendwo in der Ferne brannte Licht. Anglesey lag in dieser Richtung, und von Anglesey gab es Fährverbindungen nach Irland. Zu festen Zeiten liefen die Fähren aus und zu anderen festen Zeiten ein. Einmal hatte sie das Meer im Mondlicht glänzen sehen, eine glatte, bleiche Wasserfläche. Hin und wieder hörte sie von der Gänseweide her Geschnatter, gedämpft durch die halbmeterdicken Mauern. Sie war machtlos, sie konnte in der Nacht keinen Fuchs aufhalten.
4
    Ihr Onkel war eines Tages in den Teich gelaufen. Im weitläufigen Vorgarten des Hotels, in dem er arbeitete. Das Wasser wollte einfach nicht höher als bis zu seinen Hüften steigen. Kollegen holten ihn heraus, gaben ihm eine trockene Hose, setzten ihn auf einen Stuhl in der warmen Küche (es war Mitte November). Frische Socken hatten sie nicht für ihn, seine Schuhe wurden auf einen Herd gestellt. Viel mehr hatte sie nicht erfahren. Auch später nicht. Sie wußte nur, daß er in diesen Teich gelaufen war und eine Weile darin gestanden hatte, naß bis knapp unterhalb des hoteleigenen Gürtels. Vielleicht war er verblüfft gewesen. Er mußte das Wasser ja tiefer eingeschätzt haben.
    Daß sie hier war, hatte irgend etwas mit ihrem Onkel zu tun. Jedenfalls kam es ihr allmählich so vor. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte, ihn in dem spiegelglatten Wasser des Hotelteichs sah. Zu benebelt, um wirklich zu begreifen, daß er sich in hüfthohem Wasser nicht ertränken konnte, wenn er stehen blieb. Nicht imstande, sich fallen zu lassen, obwohl er sämtliche Taschen mit den schwersten Gegenständen vollgestopft hatte, die in einer Hotelküche zu finden waren.
    Sie hatte lange nicht an ihn gedacht; vielleicht tat sie es hier in dem fremden Land, weil jetzt wie damals November war oder weil sie nun wußte, wie es ist, wenn man einfach nicht mehr vom Fleck kommt, nicht vor und nicht zurück. Daß sich ein flacher Hotelteich wie ein toter Punkt anfühlen kann, ein Nullpunkt, und das Ufer – ohne Anfang und Ende, ein Kreis – wie eine grenzenlose Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Deshalb glaubte sie jetzt auch zu begreifen, warum er so stehen geblieben war, ohne einen Versuch, mit dem Kopf unter Wasser zu kommen. Stillstand. Ganz ohne Körperlichkeit. Kein Sex, keine Erotik, kein Verlangen. In dem knappen Monat seit ihrer Ankunft hatte sie, außer wenn sie in der Löwenfußwanne lag, nicht ein einziges Mal den Wunsch gehabt, die Hand zwischen ihre Schenkel zu schieben. Sie wohnte in diesem Haus, wie er in dem Teich gestanden hatte.
5
    Das große Schlafzimmer hatte sie sich als Arbeitszimmer eingerichtet. Das heißt, sie hatte den alten Eichentisch voller Holzwurmlöcher, den sie hier vorgefunden hatte, ans Fenster geschoben und eine Schreibtischlampe darauf gestellt. Neben die Lampe kam ein Aschenbecher, neben den Aschenbecher die Collected Poems von Emily Dickinson. Bevor sie sich an den Tisch setzte, öffnete sie
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