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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg
Autoren: Gerbrand Bakker
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überwachsen. Über den Zauntritt zu klettern wagte sie nicht, weil sie befürchtete, daß die Weide dahinter schon zu dem bisher unsichtbaren Haus gehörte. Nie zuvor war sie nach rechts abgebogen, Caernarfon lag links. Sie ging noch ein Stück weiter, der Hohlweg stieg leicht an. Nach vielleicht zehn Minuten kam sie zu einer T-Gabelung, und dort sah sie zum ersten Mal den Berg. In diesem Moment wurde ihr klar, wie weit die Landschaft hinter ihrem Haus war und wie klein sie ihren Raum gehalten hatte. Plötzlich bemerkte sie den Öler in ihrer Hand. Sie strich mit dem Finger über eine Blase an der Innenseite ihres Daumens und kehrte schnell zurück. Die Gänse schnatterten sie laut an, wie jedesmal, wenn sie vorbeikam. Am nächsten Tag kaufte sie in einem Outdoorgeschäft in Caernarfon eine Ordnance Survey Explorer Map , Maßstab eins zu fünfundzwanzigtausend.
8
    An einem kalten Abend beschloß sie, den kleinen Kamin in ihrem Schlafzimmer auszuprobieren. Sie mußte bald das Fenster öffnen. Nicht wegen des Rauchs, sondern wegen der Hitze. Trotzdem blieb es so warm, daß sie sich nackt auf die Bettdecke legte. Und sie dachte nicht an ihren Onkel, sie sah den Studenten, den Jungen im ersten Studienjahr. Sie spreizte leicht die Beine und stellte sich vor, ihre Hände wären seine Hände. Nach einer Weile schaltete sie das Licht ein, nicht die große Lampe, nur das Leselämpchen, das neben der Matratze auf dem Boden stand. Ihre Brüste waren monströs auf der weißen Wand, seine Hände noch größer. Das brennende Holz schien allen Sauerstoff aus dem kleinen Zimmer zu saugen, so daß sie nur keuchend atmen konnte. Obwohl sie keine Nachbarn hatte, sah sie immer die dunkle Fensterscheibe ohne Vorhänge, sah sich selbst hier liegen. Eine Frau, allein, die erregt war und von längst Vergangenem phantasierte, von Dingen, an die sie eigentlich nicht mehr denken sollte. Dieser unversehrte Körper, gelenkig und mager, fester Hintern, Grübchen über den Schlüsselbeinen, vorstehende Beckenknochen. Die Selbstsucht, die Energie und Gedankenlosigkeit. Das unverhängte Fenster, durch das jeder, der wollte, hineinsehen konnte, jedenfalls wenn er sich die Mühe machte, auf eine Leiter zu steigen und ein paar Kletterranken beiseite zu schieben. Danach rauchte sie im Arbeitszimmer eine Zigarette, immer noch nackt. Sie sah sich fröstelnd in der Kälte sitzen. Blies sich Rauch ins Gesicht und dachte an ihn, wie er später vor ihr saß, zwischen den anderen Studenten, einer von vielen, mit der Miene eines Kindes, das seinen Willen nicht bekam. Eines boshaften und egoistischen Kindes, und so mitleidlos, wie Kinder sein können.
9
    Am nächsten Tag schien die Sonne. Das Wetter hier war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte; es konnte windstill und ziemlich warm sein, sogar jetzt noch, so spät im Jahr. Um die Mittagszeit ging sie zum Steinkreis. Die Dachse waren nicht da, was sie nicht wunderte, sie glaubte zu wissen, daß es Nachttiere waren. Auf der detaillierten Karte, die sie gekauft hatte, verlief tatsächlich eine grüne gestrichelte Linie über ihren Zufahrtsweg und ihr Grundstück. Sogar der Name des Hauses war auf der Karte angegeben. Das zu dem Hühnerstall gehörige Haus war knapp einen Kilometer entfernt, im weiteren Umkreis gab es noch mehrere Bauernhöfe. Der Steinkreis war durch ein blütenähnliches Symbol dargestellt, daneben stand in altertümlicher Schrift stone circle . Der Berg war der Mount Snowdon. Am Steinkreis fühlte sie sich beobachtet, obwohl sie sich beim letzten Mal fast noch wie seine Entdeckerin vorgekommen war. Sie zog sich aus und legte sich wie ein wechselwarmes Tier auf den größten der Steine. Er wärmte ihren Rücken. Sie schlief ein.
    Schon seit ein paar Nächten beruhigte das Rauschen des Bachs sie nicht mehr; andere Laute – das Knacken von Dielen, das Scharren irgendwelcher (hoffentlich kleiner) Tiere, ein fast unerträglich klagender Ruf aus dem Wald – hielten sie wach, und wenn sie wach lag, kam das Nachdenken. Dann regte sie sich doch wieder auf, wurde wütend und trotzig. Sie seufzte, rutschte hin und her, wälzte sich von einer Seite auf die andere, stellte sich vor, was in ihrem Körper passierte. Und versuchte den leise bohrenden Schmerz zu lokalisieren. Ja, bohrend war er, und nicht – wie sie erwartet hatte – stechend, als würden sich Dutzende kleiner Schnäbel langsam, aber sicher den Weg freipicken. Vielleicht sprach sie einfach gut auf das Paracetamol an. Ängstlich
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