Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
sterben.«
    Während sie ihre Zigarette anzündete, dachte sie über die Armut des Englischen an Personalpronomina nach. Im you ihres Gegenübers hörte sie ein »du«, »dir« oder »dich«; das you der Frau von der Tourist Information , die ganz anders mit ihr geredet hatte, war eher ein »Sie« und »Ihnen« gewesen. Wie man angesprochen wurde, war Empfindungssache. Sie inhalierte tief, um das auftauchende Bild des Studenten wegzusaugen.
    »Es ist dein Fuß?«
    »Ja. Woher wissen Sie das?«
    »Ich hab dich reinkommen sehen. Hätte weniger mühsam sein können. Und die meisten, die durch diese Tür kommen, tragen zwei Schuhe.«
    »Ich bin von einem Dachs gebissen worden.«
    »Ausgeschlossen.« Der Arzt drückte seine Zigarette aus.
    »Es war aber so.«
    »Du lügst.«
    Sie schaute ihm in die Augen. Er meinte es ernst.
    »Dachse sind lammfromme Tiere.« Er gebrauchte das Adjektiv meek .
    »Sind Sie gläubig?« fragte sie.
    Er zeigte auf ein Kreuz an der Wand, neben einem schief aufgehängten Poster, das vor HIV -Ansteckung warnte: eine unscharfe Abbildung, auf der sie nichts erkennen konnte, über den Wörtern Exit only . »Sicher, irgendwann wird es hier nur noch Dachse geben, die Leute ziehen schon von sich aus weg. Dachse und Füchse. Oder sie sterben einfach, das natürlich auch. Kannst du mir sagen, wie es möglich ist, daß du dich von einem so lammfrommen Tier beißen läßt?«
    Zuwenig Personalpronomina und zu viele Umgehungsmanöver mit Verbalphrasen, dachte sie. »Ich habe geschlafen.«
    »Ist das Tier ins Haus eingedrungen? Wohnst du hier in der Stadt?«
    »Ich wohne etwas außerhalb. Ich habe im Freien gelegen, auf einem großen Stein.«
    »Hat der Dachs durch den Schuh gebissen?«
    »Wir reden und reden, haben Sie dafür Zeit? Es wäre mir lieber, Sie würden sich jetzt meinen Fuß ansehen.«
    »Es ist ruhig heute morgen. Du klingst ein bißchen heiser. Probleme mit dem Hals?«
    Heiser? War sie heiser? »Vielleicht habe ich Fieber.«
    »Bist du auch müde?«
    »Todmüde. Aber das …«
    »Hattest du keine Schuhe an?«
    »Ja. Ich meine, nein, keine Schuhe.«
    Der Hausarzt blickte sie an, fragte nicht nach. »Dann schauen wir mal.« Er zeigte auf einen Untersuchungstisch.
    Sie hüpfte auf einem Bein durchs Zimmer; das Hinsetzen kostete Mühe, weil der Tisch ziemlich hoch war. Dann streifte sie die dicke Socke von dem verletzten Fuß.
    »Ai«, sagte der Hausarzt.
    »Ja«, erwiderte sie. »Es tut scheußlich weh.«
    Er nahm ihren linken Fuß in die Hand und drückte ihn vorsichtig. Dann strich er mit der Hand über ihr Schienbein aufwärts. »Hier sind auch Schrammen«, stellte er fest.
    Sie konnte spüren, wie sich an ihrem Hals rote Flecken bildeten, wollte dagegen ankämpfen und wußte, daß es sinnlos war. »Ja«, sagte sie einfach.
    »Der Dachs?«
    »Ja.«
    Er strich über ihr Knie. »Nicht nur keine Schuhe.«
    »Die Sonne hat auch im November noch viel Kraft«, sagte sie.
    »Wir haben hier ein erstaunliches Klima.«
    Sie seufzte.
    »Noch andere Beschwerden?«
    Bevor sie antwortete, blickte sie sich noch einmal prüfend im Sprechzimmer um. »Nein«, sagte sie dann.
    »Bestimmt nicht?«
    »Warum fragen Sie das?«
    »Wenn hier jemand zum Beispiel wegen eines Holzsplitters im Auge zum Arzt geht, dann ist das nicht der eigentliche Grund. Nur ein Vorwand, und dann kommt man ganz beiläufig auf die hartnäckigeren Wehwehchen zu sprechen.«
    Sie blickte unverwandt das Kreuz an. Es hing wie das Poster ein wenig schief. Der Arzt nahm endlich die Hand von ihrem Knie.
    »Wenn du dir sicher bist, daß es ein Dachs war, muß ich dir eine Tetanusspritze geben.«
    »Es war ein Dachs.«
    »An der Wunde mache ich weiter nichts. Zwei- oder dreimal am Tag heißes Wasser mit gutem alten Soda. Und ich verschreibe ein Antibiotikum.« Good old washing soda .
    Die Spritze tat gemein weh. Kaum hatte er das Fläschchen und die Injektionsnadel weggeworfen, zündete er sich die nächste Zigarette an. Dann schrieb er das Rezept aus, die Zigarette im Mundwinkel; ein Auge tränte. »Weißt du, wo die Apotheke ist?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Sechs Häuser weiter.« Er schaute auf die Armbanduhr. »Hat jetzt geöffnet.«
    Sie stand auf und nahm den Zettel entgegen. »Danke.«
    »Wenn es nach vier Tagen nicht besser ist, wiederkommen.«
    »Gut.«
    »Und nimm dich vor Dachsen in acht.«
    »Ja.«
    »Vor Dachsen und Füchsen. Füchse können auch übel beißen.«
    »Die müssen sich schon um meine Gänse kümmern«, sagte sie.
    Der Arzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher