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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann
Autoren: Hera Lind
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ihr war weder eine gute Köchin noch eine liebevolle Hausfrau verloren gegangen. Bei ihr gab es immer nur Reformhausaufstrich von der grünlich-bräunlichen Sorte. Geschmacksneutral, aber nicht gesundheitsschädlich. Morgens Magerquark, mittags Grünkernbratlinge, abends Graubrot mit grauem Aufstrich. Ich tat mein Bestes, ebenso farbenfrohe wie schmackhafte Speisen und Getränke auf den Tisch zu bringen. Trotzdem wurde Leonore nicht müde, von ihrer ersten Schwiegertochter zu schwärmen.
    »Achtung, neue Nachbarn!«, rief Emil fröhlich. »Bitte melden Sie sich zum Intelligenztest! Sonst können Sie unserem Nathan nicht unter die Augen treten!«
    »Nathan der Weise, hahaha.« Charlotte las gerade Lessing im Deutschunterricht. Das gelbe Reclamheft neben ihrem Frühstücksei wies zahlreiche Eselsohren auf.
    »Blöde Ziege, halt du dich da raus!«
    »Ich bin nicht blöder als du. DU bist sitzen geblieben – ICH nicht.«
    »Er ist NUR sitzen geblieben, weil seine Eltern sich getrennt haben.« Leonore warf mir einen eisigen Blick zu. »Weil es ihm an Nestwärme fehlte.«
    Na ja. Die einen sagen so, die anderen sagen so.
    »Wie oft habe ich euch gesagt, dass wir sonntags in Ruhe frühstücken wollen.« Volker schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich habe so viel Stress mit meinen Patienten, dass ich wenigstens heute meine Ruhe haben will!«
    »Wir schaffen das.« Besänftigend legte ich meine Hand auf seine Schulter, während ich ihm vorsichtig den frischen Kaffee hinstellte. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und nahm Paulinchen die voll geschmierte Serviette ab. »Ohne Zank und ohne Streit.«
    »Das ist ja wohl das Mindeste«, grollte Volker. »Zank und Streit hatte ich mit Wiebke genug. Hier will ich ein harmonisches Familienleben!«
    »Aber das haben wir doch, Liebster.« Ich schenkte meinem Mann mein liebevollstes Lächeln, so nach dem Motto »Gemeinsam sind wir stark«. »Entspann dich mein Schatz.«
    »Voll die Harmonie!«, brummte Emil in seine Leberwurstsemmel hinein. »Voll die Nächstenliebe. Kaum Zickenkrieg, kaum Pubertätsterror.«
    Kaum Schwiegermutterterror, dachte ich bei mir und rempelte ihn verschwörerisch unter dem Tisch an. Er grinste spitzbübisch zurück.
    Emil war seinem Vater aber auch aus dem Gesicht geschnitten! Er hatte die gleichen Grübchen und das gleiche volle rötlich blonde Haar. Er war immer gut gelaunt, und seine hellwachen Augen blitzten übermütig in seinem sommersprossigen Gesicht.
    »Die Frau ist nett!«, verkündete Pauline, nachdem sie sich erneut eine Schaufel Cornflakes einverleibt hatte. »Sie hat mir heute Morgen an der Hecke schon Hallo gesagt.«
    »So, hat sie das.« Volker schlachtete ein bisschen zu brutal sein Frühstücksei.
    »’ne affengeile Alte«, stellte Emil fachmännisch fest. Leonore fiel fast der Löffel aus der Hand.
    »Auf dich fährt die garantiert nicht ab!« Nun ließ sich auch Nathan dazu verleiten, sich fast den Hals auszurenken. »Die Blonde mit den engen True-Religion-Jeans? Geschmack hat sie offensichtlich. Und einen geilen Arsch. Hoffentlich kann die Bridge spielen. Und wenn nicht, bringe ich es ihr bei.«
    »True Religion? So heißt eine HOSE ?«, entrüstete sich Leonore. »Da soll sich noch einer wundern, wenn die Welt gottlos zugrunde geht.«
    Volker schaute auch wieder hinüber. Schweigend kaute er auf seiner Semmel herum.
    »Und ein Klavier haben die auch«, verkündete Pauline neunmalklug. Leonore reckte erfreut den Kopf in Richtung Fensterfront. Der schiefe Turm von Pisa rutschte leicht zur Seite. »Sicher musikalisch gebildet. Ich werde gleich mal rübergehen und fragen, ob sie vierhändig spielen wollen. Da gibt es ganz hübsche leichte Czerny-Etüden für Anfänger.«
    Oh, lieber Gott, mach, dass sie vorher im Garten ausrutscht und sich ein Bein bricht!
    »Nee, Oma, bitte nicht!«, jaulte Emil auf. »Bitte, Papa, sag ihr, dass sie unsere neuen Nachbarn nicht sofort vergewaltigen soll!«
    »Also BITTE ! Was ist das denn für ein Vokabular!«
    »Sie werden DANKBAR sein, dass ich ihnen musikalische Tipps gebe. Vielleicht möchten sie auch Unterricht.«
    »Vielleicht auch nicht«, murmelte ich in meine Semmel hinein. »Das wäre immerhin eine Möglichkeit.«
    Plötzlich wurde mir ganz mulmig. Ich durfte nicht zulassen, dass Leonore als Erste Kontakt zu den neuen Nachbarn aufnahm und mir damit eine mögliche Freundin vergraulte. Ich konnte Leonore nicht ansehen. Hatte sie denn so gar kein Fein gefühl? »Lassen wir die armen
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