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Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen
Autoren: Phil Rickman
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Füße tragen würden. Sie winkte nicht mit den Armen, wie es Lol von
seiner
Erscheinung beschrieben hatte, aber sie schwebte beinahe durch das trockene Gras und das Unkraut. Und sie konnte nicht real sein, denn wie hätte sie die Drähte beeinflussen können?
    Als sie noch etwa zehn Meter entfernt war, hob die Erscheinung den Kopf.
    Merrily erstarrte.
    Die Hopfenfrau schwankte. Ihre Augen waren vollständig geöffnet, aber sie wirkten hart, so wie gemalte Puppenaugen untereiner dicken Lackschicht. Das waren die Augen einer Toten, Geisteraugen. Das Ende der Ranke war in ihren Mund gestopft, trockene Zapfen knirschten zwischen ihren Zähnen, und dann diese Blütenblätter, die an ihren Wangen klebten – es wirkte grotesk, wie eines dieser Laubgesichter, die man an Säulenkapitellen findet.
    Sie streckte ihre Arme aus, doch nicht nach Merrily, sondern nach Simon. Aber er ging ein paar Schritte zurück.
    «Bleib weg. Fass sie nicht an. Halte Abstand.»
    Die Finger der Frau krümmten sich in der Luft zu Klauen, als wäre da etwas zwischen ihnen, das sie packen könnte. Ihre Atmung war unregelmäßig und verkrampft, ihr Körper zuckte, verdorrte Blütenblätter fielen von ihren Lippen wie tote Hautschuppen.
    «Komm ihr nur nicht zu nahe», sagte Simon mit rauer Stimme.
    «Schon gut», sagte Merrily sanft.
    Und dann streckte sie ihre Hand nach den Klauen aus und wartete auf den kalten Elektroschock, der ihren Arm entlang und bis in ihr Herz zuckte.

48   Am größten aber ist die Liebe
    Zwölf Uhr mittags:
Der Mittag ist der tote Punkt im Tagesablauf. Dann gehört der Tag den Toten, sie saugen die gesamte Energie des Tages in sich auf. Manchmal kann man es für den Bruchteil einer Sekunde beinahe sehen, wie ein Foto, das in sein Negativbild umschlägt. Alles ist vollkommen ruhig, und alles – die Straße, die Felder, der Himmel – gehört den Toten.
    Aber diese Leute, die sich da in der Senke unter der Mittagssonne zusammenscharten, waren keineswegs tot.
    Die umwerfend schöne ältere Frau, schluchzend, und der weißhaarige Mann mit dem hageren Gesicht, der seinen Arm um sie gelegt hatte, und die mollige Frau in einem Rollstuhl und der Stoppelkopf mit dem wettergegerbten Gesicht, der einen Krankenwagen rufen wollte – es
musste
doch einfach jemand ein Handy dabeihaben. Und Lol, der mit nachdenklichem Blick etwas abseits stand.
    Und die bleiche, nackte Frau, die mit dem Kopf auf der gepolsterten Airline-Tasche unter einem Hopfengestell lag. Nicht einmal
sie
war tot.
    Sollte sie hierbleiben? Würde es damit in Schach gehalten? Und wie lange? Wie lange?
    Merrily sah zur Sonne hinauf.
    Simon St.   John verstand, was ihr durch den Kopf ging. «Gehen Sie zurück, bitte. Nur ein paar Schritte.» Simon war in Ordnung, er hatte nichts damit zu tun – die Frau war nicht tot und war auch nicht tot gewesen, als sie unter den Drähten entlangging. Also hatte Simon damit auch kein Problem. Oder?
    «Ja», stimmte die Frau verwirrt zu. «Bleiben Sie zurück. Mir geht es gut. Mir geht es gleich wieder gut.» Sie hustete. In ihrem Mundwinkel hingen Speichel und ein paar zerkaute Hopfen-Blütenblätter. «Ich bin gleich wieder   … lassen Sie mir einfach einen Moment   …»
    Merrily sah zu Simon auf. Er nickte in Richtung der Frau. Die Hopfenranke lag immer noch um ihre Beine, gelbliche Blütenblätter hatten sich in ihrem Schamhaar verfangen.
    Simon sagte: «Kennst du die Frau?»
    «Oh ja.» Merrily kniete sich nieder und war sofort in eine dichte Geruchswolke aus Hopfen und Schweiß eingehüllt. «Annie, hören Sie   … Waren Sie in dem Darrenhaus? Waren Sie gerade eben in dem Darrenhaus?»
    «Sperren Sie es ab!» Ihre Augen waren immer noch verschleiert. «Wir brauchen   … die Feuerwehr. Da gibt es anscheinend   …»
    «Ja», sagte Merrily.
    «Gas. Ein Leck in der Gasleitung.»
    «Oder Schwefel.»
    «Ich habe nicht   … Ich bin dort raus, aber ich muss   … Stellen Sie einen Posten an die Tür. Lassen Sie niemanden hinein. Es kann sein   … Ich muss ohnmächtig geworden sein, ganz kurz. Sie   …» Nun erst nahm sie wahr, dass es Merrily war, die neben ihr kniete. «Was zum Teufel haben
Sie
…»
    «Ich gehe ins Dorf», sagte Charlie. «Wir brauchen einen Krankenwagen.»
    «Mach dich nicht lächerlich.» Annie Howe versuchte sich aufzusetzen. «Das ist   …»
    «Wer ist das?», fragte Simon. Die Frau in dem Rollstuhl war über das Feld bis zu ihm gefahren und atmete schwer von der Anstrengung. Simon hielt ihre
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