Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm der Seelen

Der Turm der Seelen

Titel: Der Turm der Seelen
Autoren: Phil Rickman
Vom Netzwerk:
strategischen Gründen in dieses Amt gehoben worden sind.»
    Merrily tastete in der Airline-Tasche herum. Ihre Hand schloss sich um ein Weihwasserfläschchen.
    «Fahre hinweg!», schluchzte sie voll Schmerz, Angst und Verzweiflung. «Fahre hinweg von diesem Ort, was böser Geist und Trugbild ist. Sei verbannt, jeder Wahn und Trug des Satans. Im Namen des Lebendigen Gottes, im Namen des Heiligen Gottes, im Namen Gottes, des Herren der Schöpfung   …»
    Wie hohl und leer das alles klang. Sie lag auf den Knien, mit dem Weihwasserfläschchen in den Händen, und bekam den verdammten Deckel nicht auf.
    Wenn sie jetzt nach vorne gefallen wäre, dann wäre sie in ihrem eigenen Schatten gelandet. Doch den gab es nicht mehr.
    Es musste zwölf Uhr mittags sein.
     
    Er war verschwunden, das war ja klar. Er war nie da gewesen. Nichts baumelte an dem Querholz. Nur Simon stand dort drüben und hatte das Gesicht in die Hände vergraben.
    Merrily kam wieder auf die Beine.
    «Das war meine», krächzte Simon.
    «Was?»
    «Meine Projektion.» Sein schweißüberglänztes Gesicht war grau. «Meine Projektion von der Niederlage.»
    Merrily lehnte sich gegen die Hopfenstange. Es gab nichts zu sagen. Da war kein Nebel, kein Stock, und die Luft in der Senke war genau die gleiche, die schwer über dem ganzen Frome-Tal lag. Sie schluckte. Es schmerzte.
    Wann lief es jemals richtig? Wann funktionierte es jemals? Über den Drähten ergoss die Sonne ihr gleißendes, seelenloses Licht über den gesamten Himmel.
    Dann würde sie eben als Verliererin gehen. Hatte auch sein Gutes. Dann hatte sie wenigstens nichts, auf das sie zurückblicken konnte, keine Grundlage für Träume davon, was hätte sein können.
    Vollkommen erschöpft steckte sie das Weihwasserfläschchen zurück in ihre Airline-Tasche.
    Simon rührte sich nicht. Merrily hörte ein mürbes Rascheln, das ihr müder Kopf nur in ein entmutigendes Bild von vertrockneten Hopfenzapfen übersetzte, die an mumifizierten Ranken zerfielen.
    «Allmächtiger», sagte Simon, der an ihr vorbeisah, wie betäubt, «bitte tu das nicht.»

47   Geisteraugen
    Das erste Geräusch, das Merrily bewusst wurde, war das Vibrieren der Drähte über ihrem Kopf.
    Es war nicht laut; wenn eine Brise gegangen wäre, hätte es sogar ganz natürlich geklungen. Und wenn es elektrische Drähte gewesen wären, dann wäre es ebenfalls normal erschienen. Es war ein feines Geräusch, von beinahe menschlicher Zartheit, ein Klagen, das irgendwie nicht in den Sommer zu gehören schien. Das Rascheln übertönte es, als ob sich um all die Drähte getrocknete Ranken gewunden hätten. Dieses andere Geräusch gehörte in den Winter. Es sang von Trauer, Verlust und Jammer.
    Die Geräusche kamen nicht aus ihrer Allee, sondern aus einer, die parallel verlief, und als Merrily an ihrem Anfang stand, registrierte sie, dass diese Allee aus Rankgestellen direkt auf den Turm der Hopfendarre ausgerichtet war und sich die Stangen in beinahe dem gleichen Winkel neigten wie das Spitzdach des Turms.
    Der Schweiß auf Merrilys Gesicht trocknete, sie versuchte, vom Stadium der Angst in das Bewusstsein zu wechseln, dass sie träumte. Doch das machte keinen Unterschied.
    Sie wartete. Sie würde sich nicht bewegen. Sie kämpfte darum, ihren Atem zu beruhigen.
    Das hier war die Hopfenfrau. Sie kam durch den aufgegebenen Hopfengang auf sie zu, trieb von einem Gestell zum nächsten, und der Himmel war weiß und blendete in den Augen, und die Hopfenfrau bewegte sich wie ein Frösteln.
    Simon St.   John war jetzt hinter Merrily.
    «Was sehe ich da, Simon?»
    Er antwortete nicht. Sie hörte seinen schnellen Atem.
    «Und wessen Projektion ist das jetzt?», sagte sie und war überrascht, dass sie überhaupt sprechen konnte.
    Sie blinzelte ein paar Mal, aber sie war immer noch da: diese schlanke, weiße Frau, blass und nackt und mit einer vertrockneten Hopfenranke umwickelt.
    Merrily zog sich ihr Kreuz wieder über den Kopf.
Christus sei bei mir, Christus sei in mir   …
    Die Ranke, an der dicht an dicht die gelblichen Zapfen hingen, war zwischen den Beinen der Frau hindurchgezogen, verlief quer über ihren Bauch und zwischen ihren Brüsten hindurch, dann war sie mehrfach um ihren Hals geschlungen, sodass sie den unteren Teil ihres Gesichts verdeckte. Blütenblättchen klebten an ihren verschwitzten Wangen.
    Christus sei hinter mir, Christus sei vor mir   …
    Der Kopf war gesenkt, als ob sie auf ihre Füße sähe und sich fragte, wohin sie diese
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher