Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt
Autoren: Arno Strobel
Vom Netzwerk:
Tonfall auf, der Sibylle überhaupt nicht gefallen wollte.
    So sprach ein Vater mit einem kleinen Kind, das er trösten wollte.
Oder ein Psychiater mit seiner Patientin.
    Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Dabei zog sie sich einige der Kabel ab, die an ihrem Kopf mit einem Zeug befestigt gewesen waren, das sich nun in Krümeln auf der Bettdecke verteilte. Einige Haare hatte sie sich wohl auch ausgerissen, aber sie ignorierte den kurzen Schmerz ebenso wie den überraschten Blick des Arztes.
    »Warum beantworten Sie meine Frage nicht? Was ist mit meinem Jungen?«
    Muhlhaus schien abzuwägen, wie viel er ihr sagen konnte, während ihr Herz das Blut wie verrückt durch ihren Körper jagte. Endlich sagte er mit der gleichen Psychiaterstimme: »Frau Aurich, Sie müssen Geduld haben. Der Schlag auf den Kopf und die lange Zeit, die Sie im Koma gelegen haben … Es kann möglicherweise noch öfter passieren, dass Sie durcheinander sind. Aber mit der Zeit … –«
    »Was reden Sie da, verdammt, und warum beantworten Sie keine einzige meiner Fragen?«, unterbrach sie ihn und befürchtete im gleichen Moment, er würde ihr gar nichts mehr sagen, wenn sie noch wütender wurde. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und legte die Hände zusammen, als wolle sie beten. Leise sagte sie: »Bitte. Bitte, sagen Sie mir jetzt, ob es meinem Sohn gutgeht.«
    Muhlhaus beugte sich nach vorne und legte seine Hand auf ihre. »Frau Aurich, ich kann nicht sagen, warum … ich meine, wo diese Gedanken herkommen. Vielleicht hat der Schlag auf den Kopf sie ausgelöst, aber … Frau Aurich, Sie irren sich. Sie haben keinen Sohn.«
    Sie starrte ihn an, während ihr Verstand gleichzeitig versuchte zu begreifen, was sie gerade gehört hatte, und sich dagegen zu wehren. Sekunden vergingen und verloren ihre Wertigkeit. Sie wusste nicht, wie lange sie sich stumm gegenübergesessen hatten, bis ihr Verstand ihr endlich eine akzeptable Lösung für die unbegreifliche Situation anbot.
    »Herr Doktor, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen über mich haben, aber offensichtlich sind sie unvollständig. Mein Sohn heißt Lukas und ist sechs Jahre alt. Das heißt, wenn ich tatsächlich so lange im Koma gelegen habe, wie Sie sagen, ist er mittlerweile sogar schon sieben. Er wurde am 19. August 2001 in …« – sie stockte einen Moment, bevor sie weitersprach, alles fühlte sich so seltsam an, »… in München geboren, Klinikum rechts der Isar. Dr. Blesius hieß der Gynäkologe. Wir haben damals in Bogenhausen zur Miete gewohnt.« Als sie ihre ehemalige Wohnung erwähnte, beschlich sie ein sonderbares Gefühl. Fast so, als hätte sie etwas gesagt, das sie gar nicht hatte sagen wollen. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie diesen seltsamen Gedanken damit vertreiben, und sah zu dem Arzt auf, der noch immer stumm neben dem Bett saß.
Was hab ich … –? WO haben wir gewohnt?
Sie konnte sich nicht erinnern.
Der Schlag auf den Kopf …
Aber es war auch egal.
    »Reicht das, Dr. Muhlhaus, oder möchten Sie noch mehr hören? Denken Sie, ich hätte mir das alles in diesem Moment aus den Fingern gesogen?«
    Muhlhaus wiegte den Kopf hin und her und zeigte mit einem missglückten Lächeln eine Reihe gepflegter Zähne. »Nein, nein, Frau Aurich, ich bin sicher, dass Sie das, was Sie mir gerade erzählt haben, für real halten. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass es das Resultat des Schlages ist, durch den Ihr Gehirns in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Wissen Sie«, er räusperte sich, »das menschliche Gehirn ist zu ganz unfassbaren Leistungen fähig. Aber ebenso unfassbar sind die Streiche, die es uns spielen kann, wenn es durcheinandergerät. Und je eher Sie das akzeptieren, umso größer sind die Chancen, dass Sie schnell wieder ganz gesund werden. Sie sollten auf keinen Fall … –«
    Wortlos schlug Sibylle das Laken zurück und hob das dünne Hemdchen hoch. Dass sie dabei ihre Brüste vor dem Arzt entblößte, kümmerte sie nicht. Mit schnellen Griffen riss sie sich sämtliche Kabel vom Körper. Die Saugnäpfe hinterließen rote Flecken auf ihrer Haut. Dr. Muhlhaus reagierte nicht, doch die hellen Punkte auf den Monitoren quittierten die Aktion mit einem wilden Tanz, der von einem eindringlichen, hohen Piepton untermalt wurde. Als Sibylle die Beine aus dem Bett schwang, ging Muhlhaus ohne jede Hast um das Bett herum und schaltete mit geübten Griffen die Geräte aus. Sofort verschwand der grünliche Schimmer, und der Raum wurde nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher