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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition)
Autoren: Robert Seethaler
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selbst überraschend frischen Morgenlaune sprang er von der Matratze, schlüpfte in seine Sachen, putzte sich über dem blechernen Waschkübel die Zähne, strich sich mit den nassen Fingern durch die Haare und ging nach vorne zur Arbeit. Die Vormittage verbrachte er meist ohne allzu viele Unterbrechungen zeitunglesend auf seinem kleinen Hocker neben der Eingangstür. Unter Otto Trsnjeks Anweisung schichtete er sich einen Stapel frischer Morgenblätter zurecht und nahm sich eins nach dem anderen vor. Zu Beginn war die Arbeit mühselig, und er musste sich oftmals zusammenreißen, um während des Lesens nicht vor Müdigkeit auf die Dielen zu kippen. Zuhause hatte es ja, mit Ausnahme des monatlich erscheinenden und von der Gattin des Bürgermeisters eigenhändig verfassten Nußdorfer Gemeindeblättchens , kaum jemals richtige Zeitungen gegeben. Nur auf dem Plumpsklo neben dem Holunderbusch hinter der Hütte lag immer ein kleiner Stoß von der Mutter auf handliche Größe zusammengerissener Zeitungsblätter. Hin und wieder hatte Franz vor dem Abwischen eine Überschrift, ein paar Zeilen oder vielleicht sogar einen halben Absatz gelesen, ohne daraus allerdings jemals einen sonderlichen Nutzen zu ziehen. Das Weltgeschehen glitt ihm damals noch durch die Hände und unterm Hintern hinweg, ohne seine Seele zu erreichen. Das schien sich jetzt zu ändern. Auch wenn es in den ersten Tagen noch recht schleppend ging, so gewöhnte er sich doch bald an den meist ziemlich gestelzten Reporterstil mitsamt seiner vielen, immer wiederkehrenden Formulierungsholprigkeiten und war sogar zunehmend in der Lage, aus den verschiedenen Artikeln ihren jeweiligen Sinn herauszuklauben. Nach ein paar Wochen schließlich konnte er die Zeitungen fast flüssig lesen, wenn nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zum größeren Teil. Und obwohl ihn die unterschiedlichen, manchmal sogar völlig gegensätzlichen Standpunkte und Sichtweisen gehörig durcheinanderbrachten, bereitete ihm die Lektüre doch auch irgendwie ein gewisses Vergnügen. Es war eine Ahnung, die da zwischen den vielen Druckbuchstaben herausraschelte, eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt.
    Manchmal legte er die Zeitungen beiseite und nahm eine Zigarre aus einer der vielen bunt bemalten Holzkisten. Er drehte sie nach allen Richtungen, hielt sie gegen einen Lichtspalt in der Auslage, betastete mit den Fingerspitzen ihre mürbe Blätterhaut und zog sie mit geschlossenen Augen schnuppernd unter seiner Nase hindurch. Jede Sorte hatte ihren ganz persönlichen Geruch, und doch trugen alle gemeinsam das Aroma einer Welt jenseits der Trafik, der Währingerstraße, der Wienerstadt, ja selbst des Landes und des ganzen weiten Kontinents in sich. Es duftete nach feuchter, schwarzer Erde, nach still vor sich hinmodernden Baumriesen, nach dem sehnsuchtsvollen Gebrüll der Raubtiere, das die Urwalddunkelheit erfüllte und nach dem noch sehnsuchtsvolleren Gesang der Negersklaven, der aus den hitzeflirrenden Tabakplantagen in den Äquatorhimmel hinaufstieg.
    »Eine schlechte Zigarre schmeckt nach Pferdemist«, sagte Otto Trsnjek, »eine gute nach Tabak. Eine sehr gute Zigarre jedoch schmeckt nach der Welt!«
    Er selbst war übrigens Nichtraucher.
    In den ersten Wochen lernte Franz die Kunden kennen. Zwar gab es jede Menge Laufkundschaft, gehetzte Menschen, die hereingerannt kamen, atemlos ihre Wünsche hervorstießen, wieder hinausrannten und selten oder nie wieder gesehen wurden. Die meisten aber waren Stammkunden. Seit Otto Trsnjek im Jahr nach dem Krieg vom Invalidenentschädigungsgesetz die Trafik zugesprochen worden war, hatte er sich als feste Größe im Alsergrund etabliert. Niemand in der Gegend hatte ihn als jungen Mann gekannt. Eines Tages war er einfach da, war auf seinen Krücken die Währingerstraße heruntergeschwungen, montierte außen das große Blechschild und innen das Glockenspiel über der Eingangstür, setzte sich hinter die Verkaufstheke und gehörte seitdem zum Bezirk wie die Votivkirche oder das Installationsbüro Veithammer.
    »Merk dir die Kunden. Präg dir ihre Gewohnheiten und Vorlieben ein. Das Gedächtnis ist das Kapital des Trafikanten!«, sagte er zu Franz. Und der bemühte sich. Zu Beginn fiel es ihm noch schwer, den Leuten ihre jeweiligen Angewohnheiten und Wünsche zuzuordnen, doch mit jedem Tag wurden die Verbindungen klarer. Nach und nach begannen sich aus dem unförmigen Kundendurcheinander einzelne Menschen mitsamt ihren Eigenheiten
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