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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition)
Autoren: Robert Seethaler
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lediglich um eine alte Kuh, die sich zum Sterben ausgerechnet die Gleise der Westbahnstrecke ausgesucht hatte und nun schwer und stinkend auf den Schwellen lag. Mit Hilfe einiger Fahrgäste und unter genauer Beobachtung von Franz, der, seine weichen Mädchenhände hinter dem Rücken verschränkt, in sicherer Entfernung stand, schaffte man es, den Kadaver von den Gleisen zu zerren. Unter dem wirren Gekrabbel der Fliegen schimmerten die dunklen Kuhaugen. Franz musste an die glänzenden Steine denken, die er als Bub so oft am Seeufer eingesammelt und danach in seinen prall gefüllten Hosentaschen nach Hause getragen hatte. Jedes Mal war er von einer kleinen Enttäuschung überrascht worden, wenn er die Hose über dem Hüttenboden ausschüttelte und die Steine dumpf und trocken über die Dielen kullerten und ihren unergründlichen Glanz verloren hatten.
    Als der Zug schließlich mit nur zweistündiger Verspätung in den Wiener Westbahnhof eingefahren war und Franz aus der Bahnhofshalle ins grelle Mittagslicht hinaustrat, war seine kleine Melancholie längst wieder verflogen. Stattdessen wurde ihm ein bisschen schlecht und er musste sich am nächsten Gaslaternenmast festhalten. Als Erstes gleich einmal vor allen Leuten umkippen, da muss man sich ja genieren, dachte er wütend. Genau wie die käsigen Sommerfrischler, die es Sommer für Sommer gleich nach ihrer Ankunft am Seeufer reihenweise vom Hitzschlag getroffen ins Gras schmeißt und die hernach von gutgelaunten Einheimischen mit einem Kübel Wasser oder ein paar Ohrfeigen wieder ins Bewusstsein zurückgeholt werden müssen. Er klammerte sich noch fester an die Laterne, schloss die Augen und rührte sich so lange nicht mehr, bis er das Pflaster wieder sicher unter seinen Füßen spürte und sich die rötlichen Flecken aufgelöst hatten, die langsam in seinem Blickfeld vorbeipulsierten. Als er die Augen wieder öffnete, brach ein kurzer, erschrockener Lacher aus ihm heraus. Es war überwältigend. Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. Alles war in ununterbrochener Bewegung, selbst die Mauern und die Straßen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich. Es war, als könnte man das Ächzen der Pflastersteine und das Knirschen der Ziegel hören. Überhaupt der Lärm: Ein unaufhörliches Brausen lag in der Luft, ein unfassbares Durcheinander von Tönen, Klängen und Rhythmen, die sich ablösten, ineinanderflossen, sich gegenseitig übertönten, überschrien, überbrüllten. Dazu das Licht. Überall ein Flimmern, Glänzen, Blitzen und Leuchten: Fenster, Spiegel, Reklameschilder, Fahnenstangen, Gürtelschnallen, Brillengläser. Autos knatterten vorüber. Ein Lastwagen. Ein libellengrünes Motorrad. Noch ein Lastwagen. Mit einem schrillen Bimmeln bog eine Straßenbahn um die Ecke. Eine Geschäftstür wurde aufgerissen, Wagentüren zugeschlagen. Jemand trällerte die ersten Takte eines Gassenhauers, brach aber mitten im Refrain wieder ab. Jemand schimpfte heiser. Eine Frau kreischte wie ein Schlachthuhn. Ja, dachte Franz benommen, das hier ist etwas anderes. Etwas völlig und ganz anderes. Und in diesem Moment nahm er den Gestank wahr. Unter dem Straßenpflaster schien es zu gären, und darüber waberten die verschiedensten Ausdünstungen. Es roch nach Abwasser, nach Urin, nach billigem Parfüm, altem Fett, verbranntem Gummi, Diesel, Pferdescheiße, Zigarettenqualm, Straßenteer.
    »Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?« Eine kleine Dame hatte sich zu Franz gestellt und blickte aus rötlich entzündeten Augen zu ihm hinauf. Trotz der Mittagshitze trug sie einen schweren Lodenmantel und hatte eine schäbige Pelzmütze auf dem Kopf.
    »Aber nein!«, sagte Franz schnell. »Es ist nur so laut in der Stadt. Und es stinkt ein bisserl. Vom Kanal her wahrscheinlich.«
    Die kleine Dame reckte ihm ihren Zeigefinger wie ein dürres Ästchen entgegen.
    »Das ist nicht der Kanal, der da stinkt«, sagte sie. »Das sind die Zeiten. Faulige Zeiten sind das nämlich. Faulig, verdorben und verkommen!«
    Auf der anderen Straßenseite holperte ein hoch mit Bierfässern beladener Pferdewagen vorüber. Einer der wuchtigen Pinzgauer bog seinen Schwanz in die Höhe und ließ ein paar Äpfel fallen, die ein eigens zu diesem Zweck hinterhertrottender, schmächtiger Bub mit bloßen Händen aufklaubte und in seinen Schultersack stopfte.
    »Bist von weit hergekommen?«, fragte die kleine Dame.
    »Von zuhause.«
    »Das ist sehr weit. Da fährst am besten gleich wieder zurück!«
    Im ihrem
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