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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition)
Autoren: Robert Seethaler
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linken Auge war eine Ader geplatzt und hatte sich zu einem rosigen Dreieck erweitert. An ihren Wimpern klebten winzige Kohlenstaubklümpchen.
    »Blödsinn!«, sagte Franz. »Es gibt kein Zurück, und außerdem gewöhnt man sich an alles.«
    Er drehte sich um und ging, überquerte die stark befahrene Gürtelstraße, wich im letzten Moment einem daherbrausenden Autobus aus, sprang leichtfüßig über eine Lacke aus Pferdeseiche und bog in die gegenüberliegende Mariahilferstraße ein, so wie es ihm die Mutter gesagt hatte. Als er sich noch einmal umdrehte, stand die kleine Dame immer noch neben der Laterne am Bahnhofseingang, ein lodengrüner Zwerg mit übergroßem Kopf, in dessen feinen Pelzhaarspitzen das Sonnenlicht glänzte.
    Otto Trsnjeks kleine Tabaktrafik lag im neunten Wiener Gemeindebezirk an der Währingerstraße, eingezwängt zwischen dem Installationsbüro Veithammer und der Fleischhauerei Roßhuber. Über dem Eingang war ein großes Blechschild angebracht:
    Tabaktrafik Trsnjek
    Zeitungen
    Schreibwaren
    Rauchwaren
    seit 1919
    Franz legte sich mit etwas Spucke seine Haare zurecht, knöpfte sich das Hemd bis ganz oben zu, was ihm seiner Meinung nach den Anschein einer gewissen Ernsthaftigkeit verlieh, holte tief Luft und betrat die Trafik. Am Türrahmen über seinem Kopf ertönte das Geklingel zarter Glöckchen. Durch die von Plakaten, Zetteln und Reklamebildern fast lückenlos zugeklebte Auslagenscheibe drang nur wenig Licht ins Innere, und es dauerte einige Sekunden, bis sich Franz’ Augen an die Düsterkeit gewöhnt hatten. Der Verkaufsraum war winzig und bis unter die Decke vollgestopft mit Zeitungen, Zeitschriften, Heftchen, Büchern, Schreibzeug, Zigarettenschachteln, Zigarrenkisten und verschiedenen anderen Rauch-, Schreib- und Kleinwaren. Hinter der niedrigen Verkaufstheke, zwischen zwei hohen Zeitungsstapeln, saß ein älterer Mann. Er hatte seinen Kopf tief über einen Aktenordner gebeugt und trug sorgfältig und konzentriert Zahlen in offenbar dafür vorgesehene Spalten und Kästchen ein. Eine dumpfe Ruhe füllte den Raum, nur das Kratzen der Federspitze auf dem Papier war zu hören. In den wenigen schmalen Lichtbalken flirrte der Staub, und ein intensiver Geruch nach Tabak, Papier und Druckerschwärze lag in der Luft.
    »Servus, Franzl«, sagte der Mann, ohne von seinem Zahlen aufzusehen. Er sagte es leise, doch die Worte klangen überdeutlich in der Beengtheit des Raumes.
    »Wieso wissen Sie denn, wer ich bin?«
    »Dir hängt ja noch das halbe Salzkammergut an den Füßen!«, Der Mann zeigte mit seiner Füllfeder auf Franz’ Schuhe, an deren Kuppennähten ein paar Batzen dunkler Erde klebten.
    »Und Sie sind der Otto Trsnjek.«
    »Genau.« Mit einer müden Handbewegung klappte Otto Trsnjek seinen Ordner zu und ließ ihn in einer Schublade verschwinden. Dann stemmte er sich aus seinem Sesselchen heraus, verschwand mit einem merkwürdigen Hopser hinter den Zeitungsstapeln und kam gleich darauf mit zwei Krücken unter den Achseln wieder hervor. Soweit Franz erkennen konnte, war von seinem linken Bein nur noch der halbe Oberschenkel übrig. Der Hosenstoff unter dem Stumpf war zu einem Zipfel zusammengenäht und schlenkerte bei jeder Bewegung ein bisschen nach. Otto Trsnjek hob eine der Krücken und wies mit einer runden, fast zärtlichen Bewegung auf das Warensortiment im Verkaufsraum.
    »Und das hier sind meine Bekannten. Meine Freunde. Meine Familie. Am liebsten möcht ich sie alle behalten.« Er lehnte eine seiner Krücken gegen die Theke und strich mit dem Handrücken sanft über die bunt durcheinanderglänzenden Titelblätter in einem der Regale. »Aber ich geb sie trotzdem her, jede Woche, jeden Tag, zu jeder Stund, von der Ladenöffnung bis zum Ladenschluss. Und weißt du auch warum?«
    Franz wusste es nicht.
    »Weil ich Trafikant bin. Weil ich Trafikant sein will. Und weil ich immer Trafikant sein werde. Und zwar bis es nicht mehr geht. Bis der Herrgott bei mir die Rollos herunterlässt. So einfach ist das!«
    »Aha«, sagte Franz.
    »Genau«, meinte Otto Trsnjek. »Und wie geht es deiner Mutter?«
    »Eigentlich wie immer. Schöne Grüße soll ich ausrichten!«
    »Danke«, sagte Otto Trsnjek. Und dann führte er seinen Lehrling in die Geheimnisse des Trafikantenlebens ein.
    Franz’ hauptsächlicher Arbeitsplatz würde der kleine Hocker neben der Eingangstür sein. Dort solle er – wenn gerade nichts Dringlicheres anstehe – ruhig sitzen, nicht reden, auf Anweisungen warten und
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