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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition)
Autoren: Robert Seethaler
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vielleicht ein, zwei von Franz blickgeschützt in braunes Packpapier eingewickelte Heftchen mit.
    »Ein guter Trafikant verkauft nicht einfach nur Tabak und Papier«, sagte Otto Trsnjek und kratzte sich mit dem hinteren Ende der Schreibfeder an seinem Beinstumpf. »Ein guter Trafikant verkauft Genuss und Lust – und manchmal Laster!«
    Eine Karte pro Woche, nicht mehr und nicht weniger, das war die Abmachung. »Franzl«, hatte die Mutter am Abend vor seiner Abreise gesagt und ihm dabei mit dem Rücken ihres Zeigefingers leicht über die Wange gestrichen, »du schreibt mir jede Woche eine Postkarte, weil eine Mutter muss wissen, wie es ihrem Kind geht!«
    »Na gut«, hatte Franz gesagt.
    »Aber richtige Ansichtskarten müssen es sein. Solche mit schönen Bildern vorne drauf. Damit tapezier ich den Schimmelfleck über dem Bett zu, und wenn ich sie mir anschaue, kann ich mir immer vorstellen, wo du gerade bist!«
    In einer Ecke neben der Auslage befand sich ein schmales Gestell mit einer bunten Auswahl übereinandergereihter Gruß- und Ansichtskarten. Jeden Freitagnachmittag stand Franz davor und suchte sich eine davon aus. Die meisten zeigten irgendwelche bekannten Wiener Sehenswürdigkeiten: Stephansdom im rosigen Morgenlicht, Riesenrad unter den Sternen, Staatsoper festlich erleuchtet und so weiter. Fast immer entschied er sich für eine Karte mit Park oder Beet oder wenigstens mit Blumentöpfen vor den Fenstern der abgebildeten Häuser. Das Grünzeug und die Farben könnten die Mutter in einsamen Regenstunden vielleicht ein bisschen aufheitern, dachte er sich, außerdem passten sie besser zum Schimmelfleck. Er schrieb ein paar Zeilen, und die Mutter schrieb ein paar Zeilen, und beide hätten eigentlich lieber miteinander gesprochen oder wären zumindest schweigend nebeneinander gesessen und hätten dem Schilf zugehört. Mein lieber Franzl, wie gehts, liebe Mutter, danke gut, bei uns ist es schön, bei uns eigentlich auch, in der Stadt gibt es viel zu sehen, in Nußdorf nicht, aber das macht nichts, die Arbeit macht Spaß, von der Hütte müsste wieder einmal das Moos gekratzt werden, ich hab Dich lieb, Deine Mama, ich Dich auch, Dein Franz. Es waren Rufe aus der Heimat in die Fremde hinaus und wieder zurück, wie kurze Berührungen, flüchtig und warm. Franz legte die Karten der Mutter in die Schublade seines Nachtkästchens und sah zu, wie der Stapel Woche für Woche anwuchs, lauter kleine, glitzernde Atterseen. Manchmal, an stillen Abenden, kurz vor dem Einschlafen, konnte er es leise gluckern hören in der Lade. Aber das mochte auch Einbildung sein.
    Anfang Oktober wehte der erste Herbstwind die Hitze aus den Straßen und die Hüte von den Köpfen der Passanten. Hin und wieder sah Franz eine Kopfbedeckung an der Trafik vorüberkollern, gleich gefolgt von ihrem hinterherstolpernden Besitzer. Es war kühl geworden, Otto Trsnjek hatte schon angedeutet, er würde vielleicht bald wieder den Kohleofen anheizen, und Franz hatte begonnen, eine etwas aus der Form geratene, braune Wollweste zu tragen, die ihm die Mutter vor Jahren während verschneiter Winterstunden im Schein des Herdfeuers gestrickt hatte. Trotz der unübersichtlichen Entwicklungen und der damit verbundenen noch viel unübersichtlicheren politischen Aussichten lief das Geschäft gut. »Die Leute sind ganz narrisch nach diesem Hitler und nach schlechten Nachrichten – was ja praktisch ein und dasselbe ist«, sagte Otto Trsnjek. »Jedenfalls ist das gut für das Zeitungsgeschäft – und geraucht wird sowieso immer!«
    An einem trübgrauen Montagvormittag klingelten zaghaft die Glöckchen, und ein alter Herr betrat die Trafik. Er war nicht besonders groß und ziemlich schmächtig, eigentlich sogar dürr. Obwohl Hut und Anzug tadellos saßen, wirkten sie wie aus irgendwelchen alten Zeiten herübergerettet. Seine rechte Hand war von einem bläulichen Aderngeflecht überzogen und umklammerte den Knauf eines Gehstocks, während sich die Linke kurz zu einem flüchtigen Gruß hob, bevor sie wieder in einer der Jacketttaschen verschwand. Sein Rücken war leicht gekrümmt, der Kopf vorgereckt. Sein weißer Bart war akkurat gestutzt, und er trug eine runde, schwarzgerahmte Brille, hinter deren Gläsern die glänzend braunen Augen in beständiger Wachsamkeit herumhuschten. Das wirklich Außergewöhnliche an der Erscheinung des Alten aber war die Wirkung, die sie auf Otto Trsnjek ausübte. Sofort nach dessen Eintreten nämlich war er aufgestanden und hatte
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