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Der Tote am Lido

Der Tote am Lido

Titel: Der Tote am Lido
Autoren: Christian Foersch
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Taktik? Er brachte den Richter und den ganzen Saal gegen sich auf. Nurdie Polizisten waren erfreut, dass sie so lange Eigenwerbung machen durften.
    »Was waren Marco Clericis letzte Worte?«, fragte er zum soundsovielten Mal.
    »Drecksbullen, Arschlöcher, Faschisten …«
    »Herr Verteidiger«, sagte der Richter, »Sie waren vorhin so freundlich, auf unser aller Langmut anzuspielen. Ich denke, Sie haben diesen nun ausreichend in Anspruch genommen. Falls Sie keine neuen Fragen an die Angeklagten haben, würde ich bitte gerne zum Abschluss kommen.«
    Der Verteidiger nickte. »Vorher habe ich noch einen Antrag zu stellen.«
    Der Richter lupfte die Brauen. »Jetzt?« Er sah auf die Uhr. »Wir haben bereits die anberaumte Zeit um sechzig Minuten überschritten. Auch Ihretwegen.«
    »Ich bitte um die Anhörung eines zusätzlichen Zeugen.«
    Es war so weit. Die Falle sollte zuschnappen. Aber Amanda wusste, als Eindruck würde die Eigenwerbung der Polizisten haften bleiben und einer Gegenpartei, die dem nichts entgegenzusetzen hatte. Denn Amanda war am Morgen erwacht, in einer leeren Wohnung.
    Der Alte hatte sich in der Nacht aus dem Staub gemacht und nur einen Zettel hinterlassen: »Ich schaffe es nicht. Tut mir leid.« Tut mir leid, dachte Amanda bitter. Seit vier Jahren tut es dir leid, dass du nur ein alter, schwacher Mann bist, der es aber schafft, sich mitten in der Nacht, mitsamt seinem Hund, lautlos ausder Wohnung zu schleichen. Vorbei an Amanda, die ihn beschützen wollte.
    »Wie bitte?«, sagte der Richter. »Sie machen mir Spaß. Sie hatten Gelegenheit, sämtliche Zeugen der Verteidigung rechtzeitig zu benennen.«
    »Dies war bei diesem Zeugen leider nicht möglich.«
    »Warum nicht?«
    »Weil er sich erst heute zur Aussage durchringen konnte. Und diese Aussage wird nur wenige Sekunden in Anspruch nehmen. Der Zeuge hat den letzten Satz gehört, den Marco Clerici von sich gegeben hat.«
    Der Richter runzelte die Stirn. »Wer ist dieser Zeuge?«
    »Arturo Boccafogli.«
    Ein Raunen ging durch den Saal. Jeder kannte diesen Namen. Arturo Boccafogli war der alte Mann, der in einer ersten Befragung durch Beamte und Journalisten angegeben hatte, er habe die Szenerie in der Tatnacht vom Fenster aus beobachtet. Er habe Schreie gehört und Schemen über dem wehrlos am Boden liegenden Marco gesehen. Diese Aussage hatte er kurze Zeit später zurückgezogen. Er habe sich Publicity verschaffen wollen, gab er als Grund für seine erste Version an, die Mutter des Jungen habe ihm leid getan.
    Der Richter lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah noch einmal auf die Uhr.
    »Wo ist der Mann?«
    »Er wartet vor dem Saal.«
    Er wartete nicht vor dem Saal. Aber das wusste nur Amanda. Der Richter schüttelte den Kopf. »Trotzdem,das sprengt den Rahmen unseres Verhandlungstages.«
    Das Publikum fing zu murren an. »Also doch ein Polizeistaat. Die Bullen decken einander. Und wenn das nicht mehr reicht, decken die Richter die Bullen«, zischte jemand, »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus«, rief jemand anderes. Der Richter hatte es gehört. Und Amanda schöpfte noch einmal Hoffnung. Wenn der Richter jetzt die Sitzung vertagte, dann gab es noch eine Chance. Vielleicht würde Amanda Boccafogli rechtzeitig aufspüren. Dann wären all die Monate, all die Nacht- und Tagschichten bei Ex nicht umsonst gewesen. Sie dachte daran, wie sie sich in Tarantellas Büro vorgestellt hatte, wie sie sich ganz allmählich durch die verschiedenen Initiativen gearbeitet hatte, wie man sie für den Straßenstrich einteilte, und sie dachte: Ich verschwende hier meine Zeit.
    Sie drehte sich um und versuchte, Marcos Freunde aufzuwiegeln. Je lauter sie wurden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Sitzung abgebrochen wurde.
    Carlo Palombo sah verwundert zu Amanda und sagte schnell: »Entschuldigen Sie, wenn ich insistiere. Es war nicht so leicht, Herrn Boccafogli davon zu überzeugen, dass seine Aussage unverzichtbar und er gleichzeitig keiner Gefahr ausgesetzt sei. Seine Nerven haben in den letzten Jahren gelitten. Ich finde es bewunderungswürdig, dass er die Kraft aufgebracht hat, sich dieser schweren Verantwortung heute zu stellen. Ich weiß nicht, ob wir dies ein zweites Mal von ihm verlangen können.«
    »Das können wir, das können wir, glauben Sie mir, Herr Anwalt. Unsere Bürger sind, wie Sie wissen, dazu verpflichtet, jederzeit zur Wahrheitsfindung beizutragen, wenn sie in einer Strafsache sachdienliche Angaben machen
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