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Der Tote am Lido

Der Tote am Lido

Titel: Der Tote am Lido
Autoren: Christian Foersch
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seine Muskeln, er war wieder auf den Beinen und suchte nach einer Waffe. Er fasste nach dem Enterhaken in der Bordwand. Aber da schlug es mitten in seinem Gesicht ein. Er sah ein Phosphorleuchten. Seine Beine sackten weg.
    Er lag auf dem Rücken und versuchte, die Hände vors Gesicht zu bringen. Aber er war zu langsam. Sein Kopf wurde wie ein Pflock in die schmierigen Algen getrieben, bis seine Ohren verstopft waren. Er wunderte sich, dass seine Muskeln nicht mehr gehorchten, dass auch der Schmerz, der in seinen Schädel gefahren war, allmählich erlahmte, während ihn die stählernen Streben, durch die er die Sterne und das zur Fratze verrutschte Gesicht des Mannes sehen konnte, wieder und wieder trafen. Er erkannte den Korb, seinen eigenen Muschelkorb, der sich in die Luft erhob und dann heruntersauste und beim Aufprall ein Geräusch erzeugte,als wäre sein Kopf gar nicht mehr da, sondern nur noch die nassen Algen.
    Dieselben Algen wie zu Hause. Dieselben Algen, in denen er als kleines Kind gelegen hatte. Zum ersten Mal mit seinem Vater auf See, wieder und wieder hatte er sich, statt die Netze einzuholen, ins Meer erbrochen und sich dann zitternd und kraftlos auf die schmierigen Grünalgen gelegt, die, nach Öl und Fischblut stinkend, ein kühles Bett bildeten und ihn sanft in eine andere Welt hinübergleiten ließen. Er hatte seinen Vater angestarrt, eine Bitte auf den Lippen, und der Vater hatte nur gelächelt, mit seinem schmalen Schädel auf dem halbnackten Körper, der mit gespreizten Beinen auf den Bordwänden stand und mit der Wade den Außenborder dirigierte. Ein Gott. Bei jedem Augenkontakt lächelte dieser Gott, und je öfter er lächelte, desto größer wurde Meserets Versagen. Dann waren sie an Land, Meseret trug seinem Vater die Gummistiefel und den Enterhaken hinterher. Die Worte kamen ihm undeutlich und stammelnd über die Lippen: »Darf ich morgen wieder mit?« Da war sein Vater stehen geblieben und hatte ihn ernst betrachtet. »Solltest du nicht besser in die Schule gehen?«
    Meseret lag auf dem Rücken und spürte die sanfte Dünung. Plötzlich kehrte in seine Hände das Gefühl zurück. Ein stechendes Gefühl. In kleinen Portionen zog man ihm die Haut vom Körper. Dann rutschte er über den Algenberg und schlug mit dem Kopf und den Schultern gegen die Bordwand. Er war verwirrt, dass alles so lange dauerte und so unangenehm war.
    »Niemand erlernt einen Beruf an einem Tag. Die richtige Einstellung hast du schon, und bald hast du auch den richtigen Magen«, hatte sein Vater am Ende gesagt.
    Mit einem Platschen nahm ihn das kalte Wasser in Empfang, und Meseret wusste, auf eine klare und unaufgeregte Weise, dass er jetzt sterben würde.
2
    In warmem Orange krochen die ersten Sonnenstrahlen über die Dünenkämme, zwischen denen sich der Pfad schlängelte. Kaspar Lunau lief in einem gleichmäßigen Rhythmus, seine Sprunggelenke federten auf dem Sand, tief sog er die jodhaltige Luft in die Lungen.
    Aus dem Röhricht kamen einzelne Vogelrufe, die Dünung rollte grummelnd heran und lief in zischender Gischt aus. Er trug keine Ohrplugs, sein Gehör funktionierte. Seit vier Monaten und einem Tag hatte er keinen Anfall mehr gehabt, keine akustischen Halluzinationen, keine Überlagerungen von Schallwahrnehmungen. Er genoss, was er hörte, und er dachte an Silvia, die am Frühstückstisch sitzen würde, mit frischen Brötchen, Orangensaft und der Zeitung, in der Dinge standen, die ihn nicht kümmerten.
    Dieses Gefühl hatte ich vollkommen vergessen, dachte er, so richtig und einfach fühlt sich wohl an, was man Glück nennt.
    Er kämpfte sich eine Düne hoch, erreichte denStrand und lief auf die Wasserkante, wo der Sand kompakter war, wie frisch versiegeltes Parkett. Bizarr die Silhouetten des Treibgutes: Sonnengebleichte Wurzeln, zertrümmerte Obstkisten, gestreifte Stofffetzen. Er wurde auf einen Ärmel aufmerksam, der in einem verrosteten Klappstuhl hing. Als er näher kam, war es nur eine Windhose, die eine Bö von ihrem Mast gerissen und in einer Laune hierher getragen hatte.
    Lunau lief zurück auf die asphaltierte Strandpromenade, begegnete Frühaufstehern, sog den Duft der Bäckereien und Bars ein, und als er durch das Tor der Ferienanlage trabte, war alles so, wie er es sich ausgemalt hatte: Da saß Silvia in ihrem hellblauen Sommerkleid und pumpte mit dem Milchschäumer. Sie lächelte Lunau an.
    »Ich geh nur schnell unter die Dusche.«
    Als sie einander gegenüber saßen, schenkte er sich Wasser
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