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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar
Autoren: Colin Dexter
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wußte, schwer krank waren.
    Ja, sie hatte hin und wieder ein paar Sätze aus Gesprächen zwischen Arzt und Patient aufgeschnappt, die sie nicht hätte hören dürfen oder gleich wieder hätte vergessen müssen und von denen sie Außenstehenden nie etwas erzählt hätte.
    Nicht mal der Polizei.
    Und ganz gewiß nicht der Presse.
    Der 15. Januar war, wie sich später herausstellen sollte, ein Tag, der ihr besonders gut im Gedächtnis haften geblieben war, denn genau ein Vierteljahrhundert zuvor, im Jahre 1971, war die Klinik eröffnet worden. An jenem Abend suchten zwischen sieben und halb neun Radio Oxford, die Lokalpresse sowie Wesley Smith und sein Team von den Central TV Studios draußen in Abingdon die Klinik heim. Besonders erinnerungswürdig für Dawn waren jene Momente, als sich die Kameras auf sie richteten. Zunächst hatte sie (auf Wunsch der Fernsehleute) einem falschen »Patienten« eine Tasse echten Kaffee eingeschenkt, dann hatte der Kameramann, hinter ihrer linken Schulter stehend, gefilmt, wie sie mit einem Filzstift einen Namen auf der Terminliste durchgestrichen hatte – natürlich erst, nachdem sichergestellt worden war, daß kein Zuschauer den Namen würde lesen können, wenn das Feature am folgenden Abend über die Mattscheibe flimmerte.
    Dawn Charles aber würde ihn nie vergessen:
    J. C. Storrs.
    Der Name war relativ neu für sie. Dawn vermutete (völlig zu Recht), daß es sich hier wieder einmal um einen jener Patienten handelte, die sich dank ihrer beruflichen Position und ihrer finanziellen Lage nicht in die Schlange derer einreihen mußten, die auf ihren Termin in einem der Krankenhäuser in Headington warteten.
    Und noch etwas würde sie nie vergessen …
    Ein Zufall jener Art, wie sie Morse schon häufig zu Hilfe gekommen waren, wollte es, daß gerade in dem Moment, als sich fast genau um halb neun die meisten Medienvertreter zum Aufbruch rüsteten, der Krebsspezialist Robert Turnbull an ihrem Schreibtisch vorbeikam, ihr grüßend zunickte und langsam zum Ausgang ging, wobei seine rechte Hand leicht auf J. C. Storrs’ Schulter lag. Dawn konnte später mit Bestimmtheit nur so viel sagen, daß die beiden geraume Zeit leise miteinander gesprochen hatten. Der Arzt hatte, soweit sie sich erinnern konnte, weder wie ein Richter ausgesehen, der soeben über einen Menschen das Todesurteil gesprochen hat, noch wie einer, der dabei ist, einem Gefangenen die Freiheit zu schenken.
    Keine augenfällige Verbissenheit.
    Keine augenfällige Freude.
    Daß sich Dawn ihrer Sache nicht sicher war, hatte seinen Grund vor allem darin, daß mehrere Personen ihr die Sicht auf diese Szene nahmen. Ein Reporter mit Pferdeschwanz, der eine Krankenschwester interviewte und eifrig mitstenographierte, das Fernsehteam, das Kameras und Stative einpackte, der Oberbürgermeister, der eine kurze Glückwunschadresse in das Mikrofon von Radio Oxford sprach – all diese Leute standen zwischen ihr und der obersten der drei mit einem blauen Läufer belegten Stufen, die zum Ausgang führten. Rechts und links von der Haustür waren untereinander zwei lange Reihen von Messingschildern angebracht, zehn auf jeder Seite. Auf dem vierten von oben links stand:
     
     
    ROBERT H. TURNBULL
     
     
    Wenn Dawn Charles sich doch nur ein bißchen mehr gemerkt hätte!
    »Wenn« … Daß diese kleine, die »unvollendete« Vergangenheit einleitende Konjunktion in beiden Satzarten den Konjunktiv des Plusquamperfekts erfordert – wie uns Donet in Erinnerung ruft –, war eine Syntaxregel, die Morse bereits früh verinnerlicht hatte. Allerdings hatte er mit seiner Schulbildung auch bedeutend mehr Glück gehabt als die Sprechstundenhilfe der Harvey Clinic.
     
    In den nächsten beiden Wochen hatten die meisten Einwohner von Oxford mehr Glück als Dawn Charles. Der lyrisch angehauchte Student aus dem Pembroke College meldete sich nicht; Dawns Mutter wurde in die Psychiatrie in Littlemore eingewiesen; Dawns Bank machte sie (zweimal) auf die wiederholten Probleme mit ihrer Hypothekenschuld für ihre kleine Wohnung aufmerksam; und zu allem Überfluß hörte sie am Montag morgen, dem 29. Januar, im Radio, daß ihr Lieblingsarzt Robert H. Turnbull, MB, ChB, FRCS, mit seinem Wagen auf dem Cumnor Hill tödlich verunglückt war.

2
     
    Der Master soll nicht über das Alter von siebenundsechzig hinaus im Amt bleiben. Normalerweise wird daher der jeweils amtierende Master gebeten, in dem diesem Geburtstag vorangehenden Trimester sein bevorstehendes
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