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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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wäre er mit einer Gabel gestochen worden.
    Es war nicht möglich; die Tagträume waren nicht möglich, er hatte nicht gesehen, wie sich die Augen des Mannes von Blau zu Gelb verfärbten, und seiner Mutter ging es gut, es gab nichts, wovor man Angst haben musste, und Gefahr war das, was eine Möwe für eine Muschel bedeutete. Er schloss die Augen, und der Fahrstuhl ächzte aufwärts.
    Das Ding im Sand hatte ihn ausgelacht.
    Jack quetschte sich durch die Öffnung, sobald die Türen auseinanderzugleiten begannen. Er trabte an den geschlossenen Mäulern anderer Fahrstühle vorüber, bog rechts in den getäfelten Korridor ein und rannte an Wandleuchtern und Bildern vorbei zu ihren Zimmern. Sie hatten 407 und 408 – zwei Schlafräume, eine kleine Küche und ein Wohnzimmer mit Blick auf die lange, glatte Küste und den unendlichen Ozean. Seine Mutter hatte von irgendwoher Blumen beschafft, sie in Vasen arrangiert und ihre kleine Sammlung gerahmter Photos daneben aufgestellt. Jack mit fünf, Jack mit elf, Jack als Baby auf dem Arm seines Vaters. Sein Vater, Phil Sawyer, am Steuer des alten DeSoto, in dem er mit Morgan Sloat nach Kalifornien gefahren war – in jener nicht mehr vorstellbaren Zeit, in der sie so arm waren, dass sie oft im Wagen geschlafen hatten.
    Als Jack die Tür zu 408, dem Wohnzimmer, aufriss, rief er: »Mom? Mom?«
    Er sah die Blumen, die Photos lächelten; er bekam keine Antwort. »Mom!« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Jack spürte Kälte im Magen. Er stürzte durch das Wohnzimmer in das große Schlafzimmer zur Rechten. »Mom!« Noch eine Vase mit bunten Blumen. Das leere Bett sah aus wie gestärkt und gebügelt, so steif, dass eine Münze von der Bettdecke abprallen würde. Auf dem Nachttisch stand eine Batterie brauner Fläschchen mit Vitamin- und anderen Tabletten. Durchs Fenster sah er schwarze Wellen, die eine nach der anderen auf ihn zurollten.
    Zwei Männer, die aus einem undefinierbaren Wagen ausstiegen, selbst undefinierbar waren, und nach ihr griffen …
    »Mom!« schrie er.
    »Ich höre dich, Jack«, drang die Stimme seiner Mutter durch die Badezimmertür. »Was in aller Welt …?«
    »Oh«, sagte er und spürte, wie sich all seine Muskeln entkrampften. »Entschuldige, ich wusste nur nicht, wo du steckst.«
    »Ich bade«, sagte sie. »Bereite mich auf das Dinner vor. Oder darf ich das etwa nicht?«
    Jack hatte nicht mehr das Gefühl, auf die Toilette gehen zu müssen. Er ließ sich in einen der gepolsterten Sessel fallen und schloss erleichtert die Augen. Sie war noch okay …
    Vorläufig noch okay, flüsterte eine dunkle Stimme, und in Gedanken sah er, dass sich der Sandtrichter wieder öffnete, herumwirbelte.
     
    5
     
    Zehn oder zwölf Kilometer die Küstenstraße hinauf, unmittelbar am Stadtrand von Hampton, fanden sie ein Restaurant, das The Lobster Chateau hieß. Jack hatte einen sehr skizzenhaften Bericht über seinen Tag erstattet – schon jetzt wich er vor dem Entsetzen zurück, das ihn am Strand ergriffen hatte, ließ zu, dass seine Erinnerung es abschwächte. Ein Kellner in einem roten Jackett mit einem gelben Hummer auf dem Rücken wies ihnen einen Tisch neben einem breiten, streifigen Fenster an.
    »Wünschen Sie einen Drink, Madam?« Der Kellner hatte ein der abgelaufenen Saison entsprechend steinkaltes Neuengland-Gesicht, und als Jack es ansah und hinter seinen wässrigen blauen Augen den Hass auf sein Ralph Lauren-Sportjackett und das lässig getragene Halston-Nachmittagskleid seiner Mutter spürte, überkam ihn eine vertrautere Form des Entsetzens – simples Heimweh. Mom, wenn du nicht wirklich krank bist, was zum Teufel tun wir dann hier? Dieser Laden ist leer! Herrgott, er ist unheimlich!
    »Bringen Sie mir einen elementaren Martini«, sagte sie.
    Der Kellner hob die Brauen. »Madam?«
    »Eis in ein Glas«, sagte sie. »Eine Olive auf das Eis. Tanquaray-Gin auf die Olive. Und dann – können Sie mir folgen?«
    Mom, um Gottes willen, siehst du denn seine Augen nicht? Du glaubst, du warest charmant – er glaubt, du machst dich über ihn lustig! Siehst du denn seine Augen nicht?
    Nein. Sie sah sie nicht. Und dieses Versagen ihres Einfühlungsvermögens, wo sie doch immer genau gespürt hatte, was andere Leute empfanden, war ein weiterer Stein auf seinem Herzen. Sie zog sich zurück – in jeder Hinsicht.
    »Ja, Madam?«
    »Dann«, sagte sie, »nehmen Sie eine Flasche Wermut, irgendeinen, und halten sie an das Glas. Dann stellen Sie den Wermut wieder ins Regal und
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