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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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hier die Northern Methodist Conference im Jahre 1838 die erste ihrer großen Kundgebungen für die Abschaffung der Sklaverei in Neuengland abgehalten hatte. Daniel Webster hatte eine zündende Rede gehalten. Der Plakette zufolge hatte er gesagt: »Wisset von diesem Tage an, dass die Sklaverei als amerikanische Institution zu kränkeln begonnen hat und in all unseren Staaten und Territorien bald sterben muss.«
     
    3
     
    So waren sie angekommen an jenem Tag der vergangenen Woche, an dem die Unruhe der letzten Monate in New York geendet hatte. In Arcadia Beach gab es keine von Morgan Sloat beauftragten Anwälte, die aus Autos sprangen und Papiere schwenkten, die unterschrieben und zu den Akten gelegt werden mussten, Mrs. Sawyer. In Arcadia Beach läutete das Telefon nicht von mittags bis drei Uhr morgens (Onkel Morgan schien vergessen zu haben, dass die Uhren der Bewohner von Central Park West eine andere Zeit anzeigten als die von Kalifornien). In Arcadia Beach läutete das Telefon überhaupt nicht.
    Als sie den kleinen Badeort erreicht hatten und seine Mutter sich so aufs Fahren konzentrierte, dass sie fast schielte, hatte Jack nur einen Menschen auf den Straßen gesehen – einen verrückten alten Mann, der einen leeren Einkaufswagen ziellos auf dem Gehsteig vor sich herschob. Über ihnen ein leerer grauer Himmel, ein unerfreulicher Himmel. In krassem Gegensatz zu New York gab es hier nur das stetige Geräusch des Windes, der durch verlassene Straßen heulte, die das Fehlen jeglichen Verkehrs viel zu breit erscheinen ließ. Hier gab es leere Läden mit Schildern in den Schaufenstern, auf denen stand NUR AM WOCHENENDE GEÖFFNET oder, schlimmer noch, AUF WIEDERSEHEN IM JUNI! Es gab hundert leere Parkplätze auf der Straße vor dem Alhambra, leere Tische im Arcadia Tea and Jam Shoppe nebenan.
    Und schäbige, verrückte alte Männer schoben Einkaufswagen durch verlassene Straßen.
    »In diesem komischen kleinen Nest habe ich die glücklichsten drei Wochen meines Lebens verbracht«, erklärte ihm Lily, als sie an dem alten Mann vorüberfuhr (der sich, wie Jack bemerkte, umdrehte, um ihnen bestürzt und argwöhnisch nachzublicken; er murmelte etwas, aber Jack konnte nicht verstehen, was er sagte) und dann den Wagen auf die Auffahrt lenkte, die sich durch den Vorgarten des Hotels wand.
    Deshalb also hatten sie alles, was sie zum Leben brauchten, in Koffer, Taschen und Einkaufsbeutel gestopft und den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür umgedreht (ohne sich um das schrille Läuten des Telefons zu kümmern, das durch eben dieses Schlüsselloch hindurchzudringen und sie bis in die Halle zu verfolgen schien); deshalb hatten sie den Kofferraum und den Fond des Mietwagens mit überquellenden Tüten und Taschen gefüllt und waren stundenlang auf dem Henry Hudson Parkway nordwärts gekrochen und anschließend weitere Stunden die Interstate 95 entlanggerollt: Lily Cavanaugh Sawyer war hier einmal glücklich gewesen. 1968, ein Jahr vor Jacks Geburt, war Lily für ihre Rolle in einem Film mit dem Titel Blaze für den Oscar vorgeschlagen worden. Blaze war besser gewesen als die meisten anderen Filme; in ihm hatte Lily ein wesentlich größeres Talent zur Schau stellen können, als die schlimmen Mädchen, die sie gewöhnlich spielte, vermuten ließen. Niemand rechnete damit, dass sie einen Oscar bekam, am wenigsten Lily selbst. Aber Lily nahm das oft beanspruchte Klischee der bloßen Ehre einer Nominierung für bare Münze – sie fühlte sich wirklich und zutiefst geehrt, und um diesen Augenblick beruflicher Anerkennung zu feiern, war Phil Sawyer in weiser Voraussicht für drei Wochen mit ihr ins Alhambra Inn and Gardens gefahren, an die andere Seite des Kontinents, wo sie, im Bett Champagner trinkend, der Oscarverleihung im Fernsehen zugeschaut hatten. (Wenn Jack älter gewesen wäre und es ihn interessiert hätte, dann hätte er errechnen können, dass das Alhambra der Ort war, an dem sein eigentliches Dasein begonnen hatte.)
    Als die Nominierungen für die weiblichen Nebenrollen verlesen wurden, hatte Lily, der Familienlegende zufolge, Phil angefaucht: »Wenn ich dieses Ding bekomme und nicht dabei bin, dann tanze ich mit Pfennigabsätzen auf deinem Brustkorb Boogie.«
    Aber als Ruth Gordon den Oscar erhielt, hatte Lily gesagt: »Sie verdient ihn, sie ist ein prächtiges Mädchen.« Und gleich danach hatte sie ihrem Mann einen Rippenstoß versetzt und gesagt: »Sieh gefälligst zu, dass du mir bald wieder eine solche Rolle
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