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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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schwarzen Augen (wessen Augen?) sahen ihn an. Und er kannte diesen Blick.
    Aus dem Schnabel der Möwe hing noch ein Fetzen rohes Fleisch. Während er hinblickte, sog die Möwe ihn ein. Ihr Schnabel öffnete sich zu einem gespenstischen, aber unmissverständlichen Grinsen.
    Da machte er kehrt und rannte, mit gesenktem Kopf, die Augen gegen die heißen, salzigen Tränen verschlossen; die Turnschuhe gruben sich in den Sand, und wenn man hätte aufsteigen können, immer höher und hoher, bis zum Blickpunkt eines Möwenauges, dann hätte man an diesem ganzen grauen Tag nur ihn gesehen, nur seine Spuren; Jack Sawyer, zwölf und allein, der zum Hotel zurückrannte, der Speedy Parker vergessen hatte, dessen Stimme fast verloren war in Tränen und Wind, als er immer wieder seinen Einspruch herausschrie: nein und nein und nein.
     
    3
     
    An der Oberkante des Strandes hielt er inne, außer Atem. Ein heißes Stechen zog sich von der Rippenmitte bis zur tiefsten Stelle seiner Achselhöhle hinauf. Er ließ sich auf einer der Bänke nieder, die die Stadt für alte Leute aufgestellt hatte, und wischte sich das Haar aus den Augen.
    Du musst einen klaren Kopf behalten. Wer soll denn die Kommandotrupps anführen, wenn Sergeant Fury wegen Unzurechnungsfähigkeit aus der Armee entlassen wird?
    Er lächelte und fühlte sich tatsächlich ein wenig wohler. Von hier aus, fünfzehn Meter oberhalb des Wassers, sah alles schon ein bisschen besser aus. Was mit Onkel Tommy passiert war, war grauenhaft, aber wahrscheinlich würde er darüber hinwegkommen, sich an den Gedanken gewöhnen. Das jedenfalls hatte seine Mutter gesagt. Onkel Morgan war in letzter Zeit besonders ekelhaft gewesen, aber schließlich hatte er schon immer etwas von einem Ekel an sich gehabt.
    Und was seine Mutter anging – ja, das war das große Problem …
    Vielleicht, dachte er, als er da auf der Bank saß und mit dem Fuß im Sand neben der Strandpromenade grub, vielleicht ging es seiner Mutter doch nicht so schlecht. Sie konnte sich wieder erholen; es war sicher möglich. Schließlich hatte niemand gesagt, dass es sich um Krebs handelte, oder? Nein. Wenn sie Krebs hatte, dann hätte sie ihn nicht hierhergebracht, oder? Dann wären sie wahrscheinlich in der Schweiz, damit seine Mutter in kaltem Mineralwasser baden und Ziegendrüsen oder sonst etwas schlucken konnte. Und sie würde es auch tun.
    Also vielleicht …
    Ein leises, trockenes Wispern drang in sein Bewusstsein ein. Er blickte hinunter, und seine Augen weiteten sich. Neben dem Spann seines linken Schuhs hatte der Sand begonnen, sich zu bewegen. Die feinen weißen Körnchen beschrieben einen kleinen Kreis, der vielleicht den Durchmesser einer Fingerlänge hatte. Dann brach der Sand in der Mitte des Kreises plötzlich ein, so dass eine kleine Grube entstand. Sie war vielleicht fünf Zentimeter tief. Auch die Wände dieser kleinen Grube waren in Bewegung; sie wirbelten und wirbelten, drehten sich rapide gegen den Uhrzeigersinn.
    Nicht in Wirklichkeit, erklärte er sich unverzüglich, aber sein Herz begann wieder schneller zu schlagen, und auch sein Atem begann wieder schneller zu gehen. Nicht in Wirklichkeit, es ist einer der Tagträume, sonst nichts, oder vielleicht ist es auch ein Krebs oder so etwas …
    Aber es war kein Krebs, und es war auch keiner der Tagträume – dies war nicht die andere Gegend, von der er träumte, wenn er sich langweilte oder vielleicht ein bisschen fürchtete; und es war ganz bestimmt kein Krebs.
    Der Sand wirbelte schneller herum, mit einem dürren, trockenen Geräusch, das ihn an statische Elektrizität erinnerte, an ein Experiment, das sie im vergangenen Schuljahr mit einer Leidener Flasche gemacht hatten. Aber darüber hinaus hatte das winzige Geräusch etwas vom langen Seufzer eines Irren, vom letzten Atemzug eines Sterbenden.
    Mehr Sand brach ein und begann herumzuwirbeln. Jetzt war es keine kleine Grube mehr; es war ein Trichter im Sand, ein umgekehrter Saugwirbel. Das leuchtende Gelb eines Kaugummipapiers tauchte auf, verschwand wieder, tauchte auf, verschwand – so oft es zum Vorschein kam und je größer der Trichter wurde, konnte Jack mehr von der Beschriftung lesen: JU, dann JUI, dann JUICY F. Der Trichter wuchs, und der Sand wurde wieder von dem Papier weggerissen. Er war so schnell und grob wie eine unfreundliche Hand, die die Tagesdecke von einem gemachten Bett herunterreißt. JUICY FRUIT las er, und dann flatterte das Papier nach oben.
    Der Sand drehte sich immer
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