Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
fremd war. Oh ja, Mom, das ist ein großes Wort. Ganz lässig. Geh und spiele. Mit wem? Mom, warum bist du hier? Warum sind wir hier? Wie krank bist du? Und warum willst du nicht über Onkel Tommy reden? Was führt Onkel Morgan im Schilde? Was …
    Fragen, Fragen. Und keine war einen Pfifferling wert, weil es auf keine eine Antwort gab.
    Es sei denn, Speedy …
    Aber das war lächerlich; wie konnte ein alter Schwarzer, den er gerade kennen gelernt hatte, irgendeines seiner Probleme lösen?
    Dennoch tanzte der Gedanke an Speedy Parker am Rande von Jacks Bewusstsein, als er über den Gehsteig zum deprimierend leeren Strand hinunterwanderte.
     
    2
     
    Hier kommt das Ende der Welt, dachte Jack abermals.
    Möwen kreisten über ihm durch die graue Luft. Dem Kalender nach war es noch Sommer, doch hier in Arcadia Beach endete der Sommer am Labor Day. Die Stille war so grau wie die Luft.
    Er warf einen Blick auf seine Turnschuhe und sah, dass eine teerige Masse an ihnen klebte. Stranddreck, dachte er. Eine Art Ölpest. Er hatte keine Ahnung, wo er das aufgelesen hatte, und trat unbehaglich einen Schritt vom Wasser zurück.
    Die Möwen in der Luft, herabstoßend und schreiend. Eine von ihnen kreischte genau über ihm, und er hörte ein dumpfes, fast metallisches Knacken. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie sie ungeschickt flatternd auf einem Felsbrocken landete. Die Möwe drehte mit schnellen, fast roboterhaften Bewegungen den Kopf, wie um sich zu vergewissern, dass sie allein war; dann hüpfte sie herunter, dorthin, wo die Muschel, die sie fallen gelassen hatte, auf dem glatten, verdichteten Sand lag. Die Muschel war aufgeplatzt wie ein Ei, und Jack sah das rohe Fleisch im Innern; noch zuckend – aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
    Ich will das nicht sehen.
    Aber bevor er sich abwenden konnte, zerrte der gelbe, gekrümmte Schnabel der Möwe bereits an dem Fleisch, dehnte es wie ein Gummiband, und ihm war, als balle sich sein Magen zu einer Faust zusammen. In Gedanken konnte er das gedehnte Gewebe schreien hören – nichts Verständliches, nur geistloses Fleisch, das vor Schmerz aufschrie.
    Er versuchte abermals, den Blick von der Möwe abzuwenden, und konnte es nicht. Der Möwenschnabel öffnete sich, erlaubte ihm einen kurzen Blick in den schmutzigrosa Schlund. Die Muschel schnellte in ihre zerbrochene Schale zurück, und einen Moment lang sah die Möwe ihn an – mit tödlich schwarzen Augen, die es ihm unwiderlegbar bestätigten: Väter sterben, Mütter sterben, Onkel sterben, selbst wenn sie in Yale studiert haben und in ihren dreiteiligen Savile Row-Anzügen so solide aussehen wie Bankmauern. Vielleicht sterben Kinder auch – und letzten Endes gibt es womöglich nichts mehr außer dem geistlosen, gedankenlosen Aufschrei lebenden Fleisches.
    »He«, sagte Jack laut; er wusste nicht, dass er etwas anderes tat, als den Gedanken in seinem Kopf nachzuhängen. »He, Moment mal.«
    Die Möwe hockte über ihrer Beute und betrachtete ihn mit ihren glänzenden schwarzen Augen. Dann begann sie wieder in dem Fleisch zu wühlen. Willst du etwas abhaben, Jack? Es zuckt noch! Bei Gott, es ist so frisch, dass es noch kaum weiß, dass es tot ist!
    Der kräftige gelbe Schnabel hakte sich wieder ins Fleisch und zerrte.
    Es riss. Der Möwenkopf hob sich in den grauen Septemberhimmel, und der Schlund arbeitete. Wieder schien die Möwe ihn anzusehen, so wie Personen auf manchen Gemälden einen immer anzusehen scheinen, an welcher Stelle im Zimmer man sich auch befindet. Und die Augen – er kannte diese Augen.
    Plötzlich sehnte er sich nach seiner Mutter, nach ihren dunkelblauen Augen. Er konnte sich nicht erinnern, sich je so verzweifelt nach ihr gesehnt zu haben, seit er sehr, sehr klein gewesen war. La-la, hörte er sie in Gedanken singen, und ihre Stimme war die Stimme des Windes, jetzt hier, bald irgendwo anders. La-la, schlaf jetzt, Jacky, schlaf, Kindchen, schlaf, dein Vater hüt’ die Schaf’. Und dergleichen mehr. Die Erinnerung daran, gewiegt zu werden, während seine Mutter eine Herbert Tareyton nach der anderen rauchte, vielleicht ein Skript durchblätterte – blaue Blätter nannte sie ihre Skripts immer, daran erinnerte er sich: blaue Blätter. La-la, Jacky, alles ist in bester Ordnung. Ich liebe dich, Jacky. Psst … schlaf jetzt, lala.
    Die Möwe sah ihn an.
    Mit plötzlichem Grauen, das ihm in die Kehle fuhr wie heißes Salzwasser, bemerkte er, dass sie ihn tatsächlich ansah. Diese
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher