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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Woche Kinogeld herauszuschinden.«
    »Aber gern.«
    Sie lächelten einander an, und Jack konnte sich nicht erinnern, dass ihm je so stark nach Weinen zumute gewesen wäre, und ebenso wenig, dass er sie so sehr liebte. Es war jetzt eine Art tollkühner Zähigkeit an ihr; dass sie zu den Lungenschwärzern zurückgekehrt war, gehörte dazu.
    Ihre Drinks kamen. Sie hob ihr Glas. »Auf uns.«
    »Okay.«
    Sie tranken. Der Kellner kam mit der Speisekarte.
    »Habe ich ihm vorhin ein bisschen zuviel zugemutet, Jacky?«
    »Ein bisschen vielleicht«, sagte er.
    Sie dachte darüber nach, dann tat sie es mit einem Achselzucken ab. »Was nimmst du?«
    »Seezunge, denke ich.«
    »Gut. Auch für mich.«
    Also bestellte er für sie beide, kam sich dabei ungeschickt und verlegen vor, wusste aber, dass sie es wünschte – und als der Kellner gegangen war, konnte er in ihren Augen lesen, dass er seine Sache nicht allzu schlecht gemacht hatte. Das war zum großen Teil Onkel Tommys Verdienst. Nach einem Besuch bei Hardee’s hatte Onkel Tommy gesagt: »Ich glaube, es besteht noch Hoffnung für dich, Jack, wenn es uns gelingt, dich von dieser widerlichen Gier nach Schmelzkäse zu heilen.«
    Das Essen kam. Er schlang seine Seezunge hinunter, die heiß, pikant und gut war. Lily stocherte in ihrer herum, aß ein paar grüne Bohnen und schob dann das Essen auf ihrem Teller hin und her.
    »Vor zwei Wochen hat hier die Schule wieder angefangen«, verkündete Jack beim Essen. Beim Anblick der großen gelben Busse mit der Aufschrift ARCADIA DISTRICT SCHOOLS hatte er ein schlechtes Gewissen gespürt – was unter den gegebenen Umständen wahrscheinlich verrückt war, aber es führte kein Weg daran vorbei. Er schwänzte.
    Sie sah ihn fragend an. Sie hatte einen zweiten Drink bestellt und getrunken; jetzt brachte ihr der Kellner den dritten.
    Jack zuckte die Achseln. »Es fiel mir nur gerade ein.«
    »Möchtest du wieder in die Schule?«
    »Wie? Nein! Nicht hier!«
    »Das ist gut«, sagte sie. »Weil ich nämlich deinen verdammten Impfpass nicht habe. Ohne Stammbaum lassen sie dich nicht hinein, Kumpel.«
    »Nenn mich nicht Kumpel«, sagte Jack, aber Lily reagierte nicht mit einem Lächeln auf den alten Scherz.
    Junge, warum bist du nicht in der Schule?
    Er blinzelte, als hätte die Stimme hörbar gesprochen und nicht nur in seinen Gedanken.
    »Ist etwas?« fragte sie.
    »Nein. Oder doch. – Da ist ein Mann im Vergnügungspark. Funworld. Hausmeister, Mädchen für alles oder so. Ein alter Schwarzer. Er hat mich gefragt, warum ich nicht in der Schule bin.«
    Sie beugte sich vor, ohne eine Spur von Belustigung, fast erschreckend ernst. »Was hast du ihm erzählt?«
    Jack zuckte die Achseln. »Ich habe gesagt, ich müsste mich von einer Virusangina erholen. Erinnerst du dich an die Zeit, als Richard eine hatte? Der Arzt sagte zu Onkel Morgan, Richard dürfte sechs Wochen lang nicht in die Schule, aber er könnte draußen herumlaufen und tun, wozu er Lust hätte.« Jack lächelte ein wenig. »Ich habe ihn beneidet.«
    Lily entspannte sich etwas. »Es gefällt mir nicht, dass du mit Fremden redest, Jack.«
    »Aber Mom, er ist doch nur …«
    »Es spielt keine Rolle, wer es ist. Ich möchte nicht, dass du mit Fremden redest.«
    Jack dachte an den alten Schwarzen, sein Haar wie graue Stahlwolle, das dunkle Gesicht tief zerfurcht, die seltsamen, hellen Augen. Er hatte in der Arkade auf der Pier einen Besen vor sich hergeschoben – die Arkade war der einzige Teil von Arcadia Funworld, der das ganze Jahr offen blieb, aber sie war völlig verlassen gewesen bis auf Jack und den Schwarzen und zwei alte Männer weit im Hintergrund, die in apathischem Schweigen Skee-Ball gespielt hatten.
    Doch jetzt, da er mit seiner Mutter in diesem etwas gespenstischen Restaurant saß, war es nicht der Schwarze, der die Frage stellte; er war es selbst.
    Warum bist du nicht in der Schule?
    Es ist genau, wie sie sagt. Kein Impfpass, kein Stammbaum. Glaubst du etwa, sie hat daran gedacht, deine Geburtsurkunde einzustecken? Glaubst du das etwa? Sie ist auf der Flucht, und du flüchtest mit ihr. Du …
    »Hast du in letzter Zeit von Richard gehört?« unterbrach sie seine Gedanken, und als sie es sagte, überkam es ihn – nein, das war zu schwach. Es prallte gegen ihn. Seine Hände zuckten, sein Glas fiel vom Tisch und zerbarst auf dem Fußboden.
    Sie ist so gut wie tot, Jack.
    Die Stimme aus dem wirbelnden Sandtrichter. Die Stimme, die er in Gedanken gehört hatte.
    Es war Onkel
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