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Der Tag wird kommen

Der Tag wird kommen

Titel: Der Tag wird kommen
Autoren: Nina Vogt- stli
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und vor den anderen drin sein. Natürlich könnte ich mich in der Menge verstecken, mir ein stilles Plätzchen suchen und nach den anderen reingehen, aber Andreas kommt meistens spät, und ich möchte nicht riskieren, am Ende allein mit ihm auf dem Schulhof zu stehen. Langsam gehe ich Richtung Eingang.
    Ganz falsche Entscheidung.
    Andreas muss schon auf mich gewartet haben. Er springt hervor und ruft.
    »Ey, du!«
    Ich zucke zusammen, drehe mich um, aber es kann keinen Zweifel geben, er meint mich. Mit schnellen Schritten steuert er auf mich zu. Sein Blick ist merkwürdig. Böse, aber gleichzeitig irgendwie zufrieden.
    Mein Puls fängt an zu rasen.
    Ich kann nicht klar denken.
    Als sein Gesicht weniger als eine Armlänge von meinem entfernt ist, beginne ich, langsam rückwärtszugehen. Alles andere als klug, aber ich reagiere rein reflexartig. Ich rechne mit einem Schlag gegen den Brustkorb oder einem Kopfstoß gegen die Nase, aber es kommt nichts. Wir bewegen uns weiter, ich rückwärts, er vorwärts, mit dem Gesicht dicht vor meinem. Eine Art bedrohlicher Tango, der endet, als ich mit dem Rücken an die Hauswand stoße.
    Andreas steht vor mir und starrt mich an.
    Sein Atem riecht nach Zigarettenqualm und Erdnussbutter. Ich kann mich nicht bewegen, nicht reden, kaum atmen. Aber ich zucke mit keiner Wimper, mache die Augen nicht zu. Ich warte einfach auf das, was geschehen muss. Es ist, als wäre die Zeit eine Blase, als würden wir in der Luft schweben.
    »Irgendwann kommt es, du wirst sehen …«, flüstert er. Nur ich kann es hören. Er starrt mir immer noch in die Augen.
    Dann dreht er sich einfach um. Lacht laut. Die Blase platzt. Der ganze Schulhof johlt.
    »Ich glaube, Hans Petter braucht eine neue Windel«, sagt irgendein Clown.
    Es läutet zum Unterricht, und alle vergessen mich und fangen an, ins Gebäude zu gehen.
    Ich muss auch rein. Muss auf meinem Platz sitzen. Mitten in der letzten Reihe an der Wand. Ich muss da sitzen und so tun, als hörte ich dem Lehrer zu, während ich nur immerzu daran denken kann, was mich vielleicht erwartet und wann ich damit zu rechnen habe. Ich muss stark sein. Ich bin allein.
    Mum kann mir nicht helfen. Sie würde so gern. Aber es geht nicht. Es funktioniert am besten, wenn sie sich nicht einmischt, wenn sie keine Sachen ins Rollen bringt, die bei den anderen nur Rachegelüste wecken. Also haben wir etwas vereinbart, als ich in die Mittelstufe gekommen bin: Ich werde nicht schwänzen, und sie wird nicht versuchen, irgendwas in Ordnung zu bringen. Ich weiß, dass es ihr schwerfällt. Als sie mich in dieselbe Klasse gesteckt haben wie Andreas, musste ich sie beinahe festbinden, um sie zu stoppen.
    Es ist Abend. Mum setzt sich mit einem großen Glas Rotwein aufs Sofa, legt die Beine auf den Tisch und seufzt zufrieden, so wie man es nur an einem Freitagabend tut. Ein Fünfzehnjähriger sollte eigentlich nicht so viel Zeit mit seiner Mutter verbringen. Er sollte zu spät nach Hause kommen, Knutschflecken am Hals haben und nach Rauch und Pfefferminzkaugummi riechen. Aber das ist mir egal. Hier zu Hause bin ich jedenfalls in Sicherheit. Es kann ja auch riskant sein, sich zu viel mit pubertierenden Halbaffen abzugeben, Idiotie ist nämlich ansteckend.
    »Was hast du heute Abend für uns?«, fragt Mum. Ich bin an der Reihe, einen Film auszusuchen. Meine Mutter liebt Filme. Sie will immer etwas eigenartige Streifen sehen. Solche, die gute Kritiken bekommen haben, die aber keiner im Kino sehen möchte. Manche von denen sind okay. Außerdem liebt sie Klassiker, dann fühlt sie sich kulturell. Zum Glück wechseln wir uns mit dem Aussuchen ab. Ich mag Science-Fiction. Wenn ich einen alten SciFi-Film finde, der kein B-Movie mit fliegenden Untertassen an Bindfäden ist, dann ist Mum meistens auch einverstanden. Sie schaut gern mit mir zusammen Filme an. Sie hat ja auch nicht so viele Dates. Dafür hat sie Freundinnen. Arbeitskolleginnen, mit denen sie ab und zu was unternimmt. Aber meistens ist sie zu Hause. Da ist es nur gut, dass sie mich hat.
    »Blade Runner.«
    Ich halte das Cover hoch.
    »Ridley Scott. Director’s Cut. Ist gestern mit der Post gekommen.«
    »Oh, und mit Harrison Ford!«, sagt Mum und strahlt. »Der ist so richtig zum Anbeißen.«
    »Äh, verdirb mir nicht den ganzen Film.«
    Der Film ist cool. Das muss Mum zugeben. Ihr gefällt, »dass er zeigt, dass alles Leben wertvoll ist« und dass er »erschreckend aktuell« ist. Na ja, sie interpretiert eben das rein, was sie
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