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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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gespielt? Brahms? Schostakowitsch? Was hast du mir noch von ihm erzählt, und wo wird er wohl heute leben? Hat er ein Foto mit dir zusammen gemacht? Hattet ihr Kontakt gehalten? Ich kann mich nicht erinnern, ob wir jemals wieder über ihn gesprochen haben, und ich habe keine Notiz darüber gemacht, wie über so viele Gespräche nicht, die wir damals am Telefon geführt haben. Du bist ja noch etliche Male in Moskau gewesen. Was gäbe ich darum, damals mehr notiert zu haben! Wie unbekümmert lebte ich, ich habe niemals daran gedacht, dich zu verlieren, so wie ich nie gedacht habe, dass das Berlin, in dem ich damals lebte, dessen Straßen, Häuser, Gerüche und Klänge mir so vertraut waren, eines Tages verschwunden sein würde. Es gibt so viele Selbstverständlichkeiten im Leben. Unerschütterliche, ohne die man vielleicht gar nicht leben könnte. Besonders, wenn man noch sehr jung ist.
    Ich hatte diese Briefe vergessen.
    Für den Füller hatte ich mir ein schönes Lederetui gekauft. Ich wollte ihn nicht ungeschützt herumliegen lassen. Ich verstaute ihn sorgfältig in der Schublade meines Schreibtischs und benutzte ihn nur für besondere Gelegenheiten. Wenn wir verreisten, versteckte ich ihn, zusammen mit dem Ehering meiner Urgroßmutter väterlicherseits, der kleinen Armbanduhr meiner Großmutter und einem Ring, den meine Mutter mir geschenkt hatte.
    Ich hatte diese Briefe vollkommen vergessen. Nicht, dass ich sie einmal geschrieben habe, aber dass ich sie besaß.
    Erst, als fünfzehn Jahre nach deinem gewaltsamen Tod der Reporter kam und mich nach dir fragte, und ich in den Keller ging, um nach alten Kalendern und Tagebüchern zu suchen, die meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen sollten, öffnete ich einen Karton, auf den ich mit einem schwarzen Edding die Zahl 1993 geschrieben hatte, so wie ich für jedes Jahr einen solchen Karton habe, und stieß auf das Päckchen, das mir deine Witwe überreicht hatte. Ungläubig stand ich im Keller und starrte auf dieses Päckchen. Ich hatte einen doppelten Wollfaden darum gespannt und es zu Postkarten, Briefen, Eintrittskarten, Kinokarten und allen möglichen Erinnerungszetteln aus jenem Jahr gelegt. Ich hatte sie hineingelegt, den Karton zugeklappt, die Jahreszahl daraufgeschrieben – und sie vergessen!
    Man sieht auf das eigene Leben wie auf das einer Fremden, würde ich ein paar Jahre später auf meinen Notizblock kritzeln, im Archiv der SED , als ich zwischen staubigen Akten saß, um mehr über dich zu erfahren.
    Wie kann so etwas geschehen? Wollte ich so gründlich vergessen? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Ich habe sie weggepackt und aufgehoben, und das war’s. Die Geschichte, Julius selber, du, wohnten ja in mir.
    Der Reporter brachte den Stein ins Rollen, der etwas über dich schreiben wollte. Auf kompliziertem Weg hatte er mich gefunden. Jonathan Kepler.
    Er stand oben im Flur und rief die Kellertreppe hinab, ob alles in Ordnung sei.
    » Jaja«, rief ich und ging nach oben, in den Händen meinen Karton. Fragend sah er mich an, und ohne Worte zeigte ich ihm das Päckchen. Während unseres übrigen Gesprächs, das fast zwei Stunden dauerte, lag es vor uns, auf dem Tisch.
    » Wie haben Sie sich kennengelernt? Wann genau? Bei welcher Gelegenheit? Was war Ihr Hintergrund? Wie alt waren Sie?«
    Er schaltete sein Tonband ein. Seine Kaffeetasse hatte er schon geleert. Der Block lag neben ihm, mit einem Kuli.
    » Erzählen Sie einfach mal ein bisschen: Wer waren Sie damals?«
    Ich überlegte. Die Zeit, als ich Abitur machte, schnellte in mir hoch. Die Zeit, in der wir uns kennenlernten, unerhörter Zufall, neugieriger Aufbruch ins Leben für mich, noch unbeschwerter Augenblick in der Laufbahn für dich; ich sah dein verschmitztes Lächeln, deine –
    » Ich war neunzehn«, sagte ich, » ich machte gerade Abitur.«
    » Was waren Sie für ein Mädchen? Was haben Ihre Eltern gemacht? Wie sind Sie aufgewachsen? Ich möchte etwas von der ganzen Atmosphäre damals haben, es ist ja alles schon so lange her.«
    Er sah mich freundlich an, und ich fing langsam an. Er lachte oft und nickte, » nur zu«, und ich fühlte mich ermuntert. Vielleicht färbte seine eigene Fröhlichkeit auf mich ab, oder vielleicht war es die Erinnerung an etwas Heiteres, Helles, so wie du warst, als ich dich kennenlernte.

Erster Teil
    I.
    Mata Hari, Marx und Mehl

1
    Als ich acht oder neun war, wollte ich Mata Hari werden. Mata Hari, so hatte ich irgendwo aufgeschnappt, war eine gerissene
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