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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Autoren: Tanja Langer
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Felicitas, hatte ich begonnen, Notizen für ein weiteres zu machen, über die Flucht meiner Mutter aus Oberschlesien und die Spuren, die diese in ihrem Leben hinterlassen hatte. Ich hatte niemals daran gedacht, über dich zu schreiben.
    Der Füller und die Briefe.
    Die Witwe, die sie mir brachte, die Witwe, die an mich gedacht hat, welcher unbewusste Wunsch, welcher Gedanke lag in dieser Geste, mir die Briefe zurückzugeben? Sie wusste, dass ich schrieb, sie hatte es selbst gesagt.
    » Sie gehören dir. Ich dachte, du möchtest sie vielleicht haben.«
    Lag darin ein: Ich habe aufgeräumt, ich gebe sie dir zurück, damit ist dieses Kapitel abgeschlossen und alles dort, wohin es gehört? Diese Briefe gehörten ihr nicht. Sie gehörten auch nicht zu ihr; sie hatten zu Julius gehört, zu einem Teil seines Lebens, zu dem wiederum sie nicht gehört hatte.
    » Wir haben ihm immer die Tasche fertig gemacht. Wir haben ihm die Post geöffnet, jeden Tag. Nur Ihre Briefe durften wir nicht öffnen. Wir steckten sie ungeöffnet in seine Aktentasche.« Das hatte mir Frau Osthaus, deine Sekretärin, einmal gesagt, Jahre später. Viele Jahre später.
    Plötzlich, in der gelb gestrichenen Küche, mit Felicitas und Thimo sitzend, sah ich Pia fragend an. Hatte sie diese Briefe gelesen? Welche von den vielen waren es? Ich fühlte, dass mein Gesicht vor Röte brannte, meine Hände schwitzten. Ich wusste es nicht. Ich wusste in diesem Moment auch nicht, ob es etwas in genau diesen Briefen – es waren längst nicht alle – gab, was niemanden, insbesondere aber deine Witwe nicht, etwas anging.
    Lieber Herr, hatte ich sie oft beginnen lassen, bis wir uns nach Jahren duzten, lieber Herr –
    Dann aber dachte ich: Ich habe nichts zu verbergen. Ich hatte nie etwas zu verbergen, und du auch nicht.
    Ich erinnere mich, wie du mich einmal im Hotel Vier Jahreszeiten in München dem Herausgeber einer bekannten Zeitung vorgestellt hast, der uns beim Verlassen des Speisesaals begegnet war. » Darf ich Ihnen eine besonders begabte junge Frau vorstellen?«, hattest du gesagt. Der Herr hatte mich mit hochgezogenen Augenbrauen gemustert, mit einem unausgesprochenen soso, mit dem ältere Menschen damals jüngere gern betrachteten. Du fingst an, meine Fähigkeiten und Kenntnisse aufzuzählen, was in deiner sachlichen Art noch schlimmer war, als wenn du von ihnen geschwärmt hättest, bis ich dir mit dem Ellbogen in die Seite stieß. Es war mir peinlich. Der Herausgeber verneigte sich höflich in meine Richtung.
    » Vielleicht kommen Sie ja einmal zu uns? Sie können sich jederzeit bei mir melden. Herr Turnseck hat ja meine Koordinaten.«
    Herr Turnseck. Herr Turnseck hatte die Koordinaten, und ich habe sie nie benutzt und mich auch nie bei diesem Herrn gemeldet. Herr Turnseck – also du, du hast das nie verstanden.
    Hast du, lieber Herr, eigentlich gewusst, dass Brahms als Kind mit seinem Vater durch die Hamburger Kneipen zog und Akkordeon spielte, um Geld für die Familie zu verdienen? Hast du gewusst, dass Liszt, als er den Neunzehnjährigen und seine beiden ersten Sonaten kennenlernte, ihn sofort enthusiastisch begrüßte und ihn für seine Neudeutsche Schule gewinnen wollte? » Es scheiterte an der weltfremden Sprödigkeit des Brahmsschen Charakters«, heißt es auf meiner Schallplattenhülle mit eben diesen beiden Sonaten.
    So oder ähnlich stand es in einem meiner Briefe, die ich dir schickte, in deinem letzten Jahr, in dem es uns immer seltener möglich war zu telefonieren, weil du immer häufiger in Flugzeugen und wichtigen Besprechungen saßt, in dem Jahr, das dem des Mauerfalls vorausging und das Gesicht der Welt so andauernd und ungeheuerlich verändern sollte.
    Hast du gewusst, mein lieber Herr, dass Brahms etwas von dir zur Sprache brachte, das du selbst niemals zur Sprache hättest bringen wollen und was ich erst jetzt, so viele Jahre nach deinem Tod, zu verstehen beginne?
    Kannst du dir, liebe Witwe, vorstellen, dass er sich gewünscht hätte, dass ich ein Quäntchen von dieser Geschichte in Worte fassen würde?
    In den ersten beiden Sonaten, so heißt es auf meiner Plattenhülle, habe Brahms noch versucht, sein romantisches subjektives Empfinden in die große klassische Form zu zwingen. Schon bei der dritten aber habe er alles Vorgefundene verlassen und seine eigene musikalische Form erfunden.
    Der Musiker, von dem du mir bei unserer ersten Verabredung erzählt hast: Was wohl aus ihm geworden ist? Was er wohl heute spielt? Was hat er damals
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