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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand
Autoren: Juergen Domian
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ist. Vielleicht die erste oder zweite Maiwoche, vielleicht sogar schon die dritte. Eigentlich aber ist das auch egal. Mai, Juni, April, Samstag, Mittwoch, Montag, der Siebzehnte, der Erste oder der Zwölfte – was spielt das noch für eine Rolle?
     
    Manchmal gehe ich in die Apotheke. Dann stehe ich lange hinter der Ladentheke, dort, wo Finn vermutlich zuletzt gestanden hat. Diese Stelle ist für mich sein Grab. Ich verharre immer lange dort, stelle mir vor, ich sei er – und habe in diesen Momenten die Hoffnung, auch aus dem Leben genommen zu werden – einfach so. Aber das Mysterium scheint mich nicht zu wollen. Oder vielleicht: noch nicht.
     
    Es ist draußen wieder wärmer geworden. Zumindest an meinem Fenster und auch auf dem Balkon der Anna-Thomas-Wohnung. Die Thermometer zeigen minus drei Grad an. Das ist der Höchststand seit Beginn der Katastrophe – und eigentlich eine Sensation.
     
    Lange werde ich die Psycho-Medikamente nicht mehr schlucken. Wozu auch? Ich will ganz und gar bei mir sein. Und dann soll alles seinen Lauf nehmen.
    Was würde Finn in meiner jetzigen Lage wohl tun? Sicher keine Tabletten einnehmen. Oder vielleicht doch? Ich weiß es nicht.
     
    Hätte ich einmal zu ihm sagen sollen: Ich liebe dich!? Nein, er hat es gefühlt, das glaube ich fest. So wie ich gefühlt habe, dass er mich liebt.

52. EINTRAG
    Wie viele Tage sind seit meinem letzten Eintrag vergangen? Ich vermute, fünf oder sechs. Das Schreiben hier erscheint mir im Grunde sinnlos. Dennoch tue ich es ab und zu. Jedoch warum? Vielleicht ist das Schreiben eine Ersatzhandlung? Ja, das wäre möglich.
    Ich kann nicht beten – also schreibe ich. Denn eigentlich sollte ich gar nichts anderes mehr tun als beten. Aber ich bin dazu nicht in der Lage. Wen oder was sollte ich auch anbeten?
     
    Ob es noch wärmer wird?
     
    Ich bin sicher, dass Finn tot ist – und nicht nur verschwunden. Früher hatte ich ja immer wieder mal die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Menschen seien auf wundersame Weise von hier weggenommen worden und würden woanders, vielleicht sogar in einer fremden Wirklichkeit weiterexistieren. So denke ich jetzt nicht mehr. Warum auch? Es gibt keinerlei Indizien dafür. Meine Hoffnung hatte solche Spekulationen genährt. Jede auch noch so absonderliche Mutmaßung war tröstlicher gewesen als die Vorstellung, der Tod habe alles für immer und endgültig an sich gerissen.

53. EINTRAG
    Mein letzter Eintrag liegt zwei Wochen zurück. Seit vorgestern nehme ich keine Medikamente mehr ein. Ich fühle mich schlecht: starke Stimmungsschwankungen, wenig Schlaf, Angstzustände, Kopfschmerzen.
    Ich zwinge mich, zu essen – und ich zwinge mich, wieder etwas zu tun.
    Heute Morgen habe ich die Wohnung gesäubert und anschließend versucht, etwas zu lesen. Das bereitete mir große Schwierigkeiten. Ich musste mehrere Anläufe nehmen, um die erste Seite zu schaffen. Immer wieder sprangen meine Gedanken wie toll in alle Richtungen davon, und dann las ich, ohne zu wissen, was ich las. Es fällt mir so schwer, mich zu konzentrieren. Aber auf zehn Seiten habe ich es dann doch gebracht, das ist ein kleiner Erfolg. Und ich weiß sogar noch, um wen und was es ging. Um den Bauern Isak, der in der Einsamkeit des Nordens dem Moor ein Stück Erde abringt, um es urbar zu machen.
     
    Ich bin schon lange nicht mehr in der Apotheke gewesen. Es hat keinen Sinn, sich dort aufzuhalten. Die Apotheke ist Vergangenheit. Alles ist Vergangenheit.
    Wie unendlich weit entfernt mir die Zeit mit Marie scheint. Selbst der 17. Juli des vergangenen Jahres ist in große Ferne gerückt. Und Finn? Vorhin war ich kurz davor, wieder Medikamente zu nehmen. Sogar stärkere als bisher. Aber das möchte ich nicht. Nachdem ich ein klares »Nein!« laut vor mich hin gesprochen hatte, habe ich alle Psycho-Tabletten, die hier in der Wohnung lagerten, verbrannt. Ich will keine Betäubung. Ich will mich mir stellen. Ich will mich allem stellen. Die Stimmungsschwankungen sind bestimmt auf das Absetzen der Pillen zurückzuführen. Wenn sich die Chemie meines Gehirns wieder geordnet hat, werde ich entscheiden, was zu tun ist. Ich bin ja frei. Mir wird kalt, wenn ich so denke. Nur die Trauer um Finn wärmt meine Seele noch. Nach wie vor spreche ich mit ihm. Aber nicht mehr so oft. Von Tag zu Tag wird es weniger.
    Ich verliere das Interesse daran. Und wenn ich es tue, finde ich mich selbst absonderlich.

54. EINTRAG
    Null Grad draußen! Ich habe den Eindruck, dass es sogar
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